Das Büro der Heimleitung. Wenn man den Raum betritt, so findet man vor sich direkt einen Tisch, welcher von einer Sofalandschaft und einem niederen Tisch umringt ist und für Besprechungen aller Art genutzt werden kann. Oft trifft man hier auch auf Eltern, die sich über das Wohnheim und die Schule erkundigen möchten. Dahinter befindet sich der Arbeitsplatz des Heimleiters bestehend aus einem Schreibtisch - welcher einen sehr edlen Stuhl beherbergt, der sicher schon einige Jährchen auf dem Buckel hat - und Regalen welche die Akten der Heimbewohner, sowie deren Zimmernummern beinhalten. Seinen Schlüssel für sein Zimmer kann man hier ebenfalls abholen. Doch Vorsicht! Wer die Hausordnung bricht, könnte hier ganz schnell auch zu weniger angenehmen Dingen sitzen.
Mit einem kurzen Winken verabschiedete ich mich von Oliver. Einen schnellen Blick in den Speisesaal werfend, stellte ich fest, dass der Speisesaal nicht wirklich gut besucht war. Konnte daran liegen, dass sich der Großteil noch draußen rumtrieb. Die heutige Jugend hatte es nicht wirklich eilig von ihren Ausflügen zurückzukehren und ein gratis Abendessen zu würdigen. Blieb mehr für mich. Vielleicht konnte ich mir später noch etwas holen, dann musste ich zuhause nicht selbst kochen. Heute war meine Lust dazu kaum bis gar nicht vorhanden. Genervt stöhnte ich auf, als ich den Weg weiterging um in mein Büro zu gelangen. Eigentlich hatte ich darauf auch wenig Lust. Aber die Arbeit machte sich nicht von alleine. Leider. Manchmal wäre es wirklich vorteilhaft ein Magier zu sein. Ein paar Zaubersprüche gab es sicher, die meine Arbeit im Handumdrehen bewerkstelligten.
Vor meiner Bürotür überlegte ich fieberhaft, ob ich wirklich noch einen Schritt reinwagen oder es für heute gut sein lassen sollte. Vermutlich sah ich wie der letzte Depp aus, mit einer Hand am Türgriff und wie eine Statue davor stehend. So konnten mich, vorbeigehende Personen, gut betrachten und sich freuen so einen attraktiven Heimleiter zu haben. Ein Grinsen konnte ich mir nicht verkneifen, aber bevor es wirklich noch zu peinlich wurde, verschwand ich in mein Büro. Irgendwann musste auch mal Schluss sein. Mit langen Schritten trat ich an meinen Schreibtisch und ließ mich auf meinen Stuhl fallen. Da kam mir auch ein Gedanke. Wie ein Kleinkind drehte ich mich auf meinem Stuhl um die eigene Achse, dabei ein Grinsen auf den Lippen. Ich verkniff es mir tunlichst einen Ausruf von mir zu geben. Dieses Unterfangen durfte niemals diesen Raum verlassen, daher besann ich mich eines Besseren und rückte mich wieder zurecht. Ein kleiner Ausflug in das Kindergartenalter hatte noch niemanden geschadet. Und an dem heutigen Tag hatte ich es mir redlich verdient. Immerhin musste ich noch an einer Moralpredigt arbeiten. Das konnte ich jetzt auch machen, der andere Papierstapel lief mir garantiert nicht davon. Cyril die Leviten zu lesen, hatte eine höhere Prioritätsstufe als andere liegengebliebene Arbeit, die konnte gut und gerne noch ein paar Tage liegen. Als Heimleiter musste ich eben auch Prioritäten setzen. Jawohl.
Warum war ich überhaupt wieder unterwegs? Warum konnte ich nicht einfach in meiner klimatisierten, wenn auch recht einsamen, Wohnung bleiben und mich mit mir selbst beschäftigen? Sonst hatte ich doch auch keine Probleme damit, mich einfach mit Büchern irgendwo hinzuhocken und die Zeit verstreichen zu lassen... aber gerade sehnte ich mich wohl einfach danach, nicht alleine zu sein. Sonst würde ich noch auf die Idee kommen, mich zu fragen, was mit Deirdre los war und ob sie wirklich nur viel zutun, oder einfach keine Lust auf mich hatte. Mein Weg führte mich von meiner Wohnung zu meinem Auto, von einem klimatisierten Raum zum nächsten, und ich fuhr ohne irgendeinen Plan drauf los.
Also, wen kannte ich? Riley, aber der war raus. Levi, der sicherlich besseres zutun hatte, als sich mit der Schulärztin zu treffen. Chloe fiel mir auch noch ein, mit der ich mich am morgen unterhalten hatte, aber sicherlich genoss sie gerade ihren freien Tag, also störte ich sie lieber nicht. Meine Gedanken wanderten zu Kollegen, die ich noch nicht so gut kannte und langsam aber sicher formte sich ein Plan in meinem Kopf. Ein sehr wackeliger und undurchdachter Plan, aber zumindest eine Idee hatte ich nun. Ich steuerte mein Auto richtung Wohnheim und hoffte einfach, dass ich auf die Person treffen würde, auf welche ich gerade zusteuerte. Auf dem Parkplatz angekommen stieg ich aus und begab mich wieder in die Hitze, ehe ich auch schon im Wohnheim selbst verschwand. Mein Plan war es, Vincent einen Überraschungsbesuch zu verpassen. Die Sterne mussten zwar richtig stehen, damit er überhaupt noch in seinem Büro war und dann nicht zu viel um die Ohren hatte, aber einen Versuch war es wert. Ich wollte ihn sowieso etwas näher kennenlernen, da die wenigen Worte die wir bisher gewechselt hatten sehr sympathisch waren. Und sollte alles gut laufen hatte ich einen weiteren Kandidaten, den ich zu meinem Geburtstag einladen konnte! Oh apropos, Chloe sollte ich dazu auch eine Nachricht schreiben. Schnell wurde mein Handy aus meiner Tasche gefischt, ein paar Worte eingetippt, und schon verschwand es wieder, als ich auch schon vor der Tür des Heimleiter-Büros zum Stehen kam.
Ich klopfte ein paar Mal gut hörbar und wartete ein paar Sekunden ab, ehe ich reingebeten wurde. Die Tür wurde von mir geöffnete und schon als ich eintrat begrüßte ich den Heimleiter mit einem fröhlichen „Hallo!“ und einem strahlenden Lächeln. Glück gehabt! Vincent war tatsächlich anwesend - aber ob er viel zutun hatte, musste ich noch herausfinden. Ich schloss die Tür hinter mir und trat näher an den Weißhaarigen heran, ehe ich vor seinem Tisch stehenblieb. Dieses Büro war wirklich genau mein Stil, vielleicht sollte ich mich als Heimleiterin bewerben, sollte Vince irgendwann abdanken. „Eigentlich habe ich nicht damit gerechnet, dich hier noch anzutreffen. Viel zutun?“ Mein neugieriger Blick huschte über seinen Schreibtisch, auf welchem sich definitiv die einen oder anderen Papiere befanden - mit was er sich wohl täglich so rumschlagen musste, wenn gerade keine Neuankömmlinge auf die Insel kamen? Nach wenigen Momenten lag mein Blick jedoch wieder auf dem Mann vor mir, noch immer mit einem sanften Lächeln auf den Lippen. „Ich bin eigentlich nur hier, weil ich Langeweile hatte und dachte, wir könnten uns etwas besser kennenlernen. Also kannst du mich ruhig rauswerfen, wenn du noch viel Arbeit vor dir hast.“ Sein Anliegen geradewegs heraus zu sagen war immer die beste Option, meiner Meinung nach. Dadurch entstanden keine Missverständnisse und jeder wusste, worum es geht, auch wenn manche es vielleicht als "plump" betiteln würden. Natürlich hätte ich verbal um das Thema herumtänzeln können, aber wozu?
Ich war gerade dabei meine Gedanken für die Predigt zu sammeln, ein paar hatte ich sogar schon auf Papier gebracht, da klopfte es an meiner Tür. Ein wenig irritiert schaute ich auf meine Armbanduhr. Anscheinend war mein Typ gefragt. Nach einem kurzen Räuspern, bat ich die Person herein. Davor drehte ich mein Blatt mit meinen gedanklichen Ergüssen allerdings noch um. Schließlich wusste ich nicht, wer sich vor dieser Tür befand, würde es aber in den nächsten Augenblicken erfahren. Gespannt richtete ich mein Augenmerk auf die sich öffnende Tür.
Sogleich wurde ich auch begrüßt und die Tür wieder geschlossen. Privatsphäre hatte einen hohen Stellenwert. Hier wurde schon viel gesprochen. Nicht immer fröhliche Dinge. Aber das Leben war eben kein Ponyhof. »Guten Abend.«, begrüßte ich die Ärztin ebenfalls mit einem Lächeln. Ob einem der Schäfchen etwas fehlte? Ohne es zu wollen, verfiel ich ins Grübeln. Vielleicht wollte mir Amélie die Nachricht persönlich überbringen und mit mir die weiteren Schritte besprechen. Ich war so auf meine rasenden Gedanken fixiert, dass ich nur mehr das Ende ihres Satzes mitbekam. Allerdings, so klug wie ich eben war, konnte ich mir ihre Worte bereits zusammenreimen. Ein Hoch auf meine Intelligenz, die mich zwar hin und wieder im Stich ließ, aber in den wichtigen Momenten präsent war. »Ach du kennst das ja, Papierkram.«, erwiderte ich grinsend und deutete auf meine Stapel. Allerdings waren es nicht alles Dinge, die unbedingt gleich oder generell erledigt werden mussten. Es waren auch ein paar Blätter mit meinen Gedanken zu den Kids, dem Personal oder Vorkommnissen, die ich unbedingt mal aussortieren sollte. »Aber zum Glück nichts, was ich heute noch machen müsste.«, erklärte ich weiter. Nicht, dass sie noch dachte, dass ich keine Zeit hätte mir anzuhören warum sie gekommen war. Bevor ich jedoch das Wort an Amy richten konnte, verkündete sie mir bereits, weshalb sie in mein Büro geschneit gekommen war. Ein Lachen konnte ich mir - wie so oft - nicht verkneifen. Immer gerade heraus mit der Wahrheit, war doch recht erfrischen und damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. »Sorry. Wollen wir uns aufs Sofa setzen? Dann können wir bequemer reden.«, schlug ich vor und deutete auf meine Sitzlandschaft. Immerhin wollte ich es ihr nicht zumuten, dass sie während der Unterhalten vor mir stehen musste. Das wäre ganz und gar nicht angebracht. Ich erhob mich ebenfalls aus meinen Schreibtischstuhl und folgte der Braunhaarigen zur Sofaecke. Mit einem Ächzen ließ ich meinen Hintern auf einen der Stühle fallen. Irgendwie mochte ich diese Dinger lieber als das Sofa selbst. Für ein kurzes Nickerchen wählte ich allerdings das Sofa. Oder ich ließ das Nickerchen sausen und kümmerte mich um meine Arbeit. »Wie war dein Tag?«, fragte ich geradeaus.
Ich schien den Heimleiter nicht bei seiner Arbeit zu stören, was mich gerade sehr freute. Hätte er mich gebeten zu gehen, hätte ich dies natürlich verstanden, aber wo wäre ich dann hingegangen? Wahrscheinlich doch wieder einfach nach Hause, wo ich mich entweder mit Filmen oder Büchern eingedeckt hätte, damit die Zeit verstrich. Doch darüber musste ich mir gerade wohl eher keine Gedanken machen, denn glücklicherweise hatte der Weißhaarige nichts dagegen, seine Papierstapel ein wenig vor sich herzuschieben.
„Danke“, sagte ich auf die Einladung hin, mich auf das Sofa zu setzen, was ich auch sofort in Angriff nahm. Ein paar Schritte brauchte es nur bis ich vor der Ledercouch stand und ich ließ mich auf die rechte Seite fallen, wo ich mich etwas seitlich mit dem Rücken an Rücken- und Armlehne lehnte. Mein rechtes Bein wurde grazil über das linke geschlagen, darauf bedacht, dem Heimleiter keinen Blick unter meinen Rock zu gewähren, ehe dieser wieder die Stimme erhob. Ich war ein wenig überrascht, dass er mich nach meinem Tag fragte - doch dann fragte ich mich, warum es mich so überraschte? So eine Frage gehörte zum Smalltalk 101! Vielleicht war ich es nur nicht gewohnt, dass Leute mich tatsächlich danach fragten, was ich so alles erlebt hatte bevor sie in meinem Tagesablauf aufgetaucht waren. „Angefangen hat mein Tag ziemlich ruhig und... ein bisschen langweilig.“ Während ich geistig meinen Tagesablauf durchging schweifte mein Blick durch das hübsche Büro. Was genau musste ich hier machen, um auch so eins zu bekommen? „Dann hab ich seit Mittag rum überraschend viel Zeit mit Riley verbracht.“ Mein Blick landete wieder auf dem Heimleiter und ich grinste ihn leicht an. Von der Behandlung wollte ich ihm nicht erzählen, einfach weil es nichts zum rumposaunen war. Es war mir ja schon schwer genug gefallen, überhaupt Riley um Hilfe zu beten. Der andere Teil, von dem was wir gemacht haben, sollte jedoch klar gehen! „Er bringt mir bei mich etwas mehr zu verteidigen, da ich bei sowas eine ziemliche Niete bin.“ Ich lachte leicht und schaute etwas verlegen drein, obwohl ich ziemlich stolz auf das war, was ich heute schon erreicht hatte. Das war es wohl zu meinem Tag, wirklich ins Detail gehen konnte ich ja noch, sollte Vincent tatsächlich daran interessiert sein, was so passiert war. Aber ohne das Nachfragen wollte ich ihn nicht mit den Kleinheiten nerven und ihm das Ohr abkauen. „Und wie war dein Tag? Hoffentlich gab es keine Notfälle, wofür der Heimleiter benötigt wurde.“ Ich erinnerte mich daran, dass die Schüler wohl in neue Klassen eingeteilt wurden - ob Vincent dann das Drama davon abbekam, oder doch eher Julia Bardera? Es war klar ihr Gebiet, aber manchmal hatte ich das Gefühl vermischten sich die Schule und das Heim doch ziemlich. Immerhin arbeitete ich auch in beiden, wo ich gerade halt gebraucht wurde, oder wo die meisten Schüler sich aufhielten. Kurz fiel mir wieder ein, dass ich ihn ja womöglich auch zu dem Karaoke-Abend einladen wollte, doch ich entschied mich, ihn erstmal erzählen zu lassen. Ich wollte ihn nicht so verbal zumüllen wie ich es noch bei meinem Arzt-Kollegen getan hatte.
Amy folgte meiner Einladung und machte es sich auf dem Sofa gemütlich. In einer gemütlichen Umgebung ließ es sich viel einfacher plaudern und dafür war die Braunhaarige schließlich gekommen. Was mich doch noch immer ein wenig verwunderte. Es verirrten sich nicht viele Kollegen in mein Büro, nur wenn der Hut brannte, wurde meine Tür beinahe eingetreten. Aber das war eben das Los des Heimleiters. Dafür war ich schließlich da und ein wenig Smalltalk mit den einzelnen Erwachsenen hier auf der Insel zu halten, war auch einmal eine willkommene Abwechslung.
Anscheinend hatte Amélie ihren Tag zum Großteil mit Costanova verbracht. Bei ihrer Erzählung konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Irgendwie konnte ich mir den Burschen gerade nicht vorstellen, wie er ihr Selbstverteidigung beibrachte. Nicht, dass er es nicht konnte. Aber das Bild mochte sich in meinen Gedanken einfach nicht formen. Vielleicht musste ich auch ein paar Stunden bei dem Arzt nehmen. Kam ebenfalls auf meine imaginäre Liste, die ich irgendwann man anfangen sollte, abzuarbeiten.
Die Frage nach dem Tag wurde höflicherweise von Amy an mich zurückgegeben. Notfälle gab es zum Glück keine. Bislang auch keine Beschwerden wegen der neuen Klasseneinteilung, aber das konnte auch noch die nächsten paar Tage passieren. Die Kids waren eben kleine Hosenscheißer, die sich manchmal einfach nur ein bisschen aufregen wollten. Aber beschlossen war eben beschlossen und daran gab es auch nichts zu rütteln. Wo käme ich denn da hin, wenn ich die Autorität von Julia untergraben würde? In die Hölle vielleicht? Konnte gut möglich sein, wobei in der Hölle war es Julia sicher zu heiß, da würde ihre eiskalte Fassade sicherlich Risse bekommen. Meine Antwort auf die Frage fiel relativ kurz aus, da nichts wirklich Interessantes passiert war. Das Cyril die Schule geschwänzt hatte, musste ich der Ärztin nicht auf die Nase binden. Der schwarzhaarige Bengel stand auf meiner Liste ganz weit oben.
Nach einer Weile, verabschiedete sich die Braunhaarige wieder und ich war wieder alleine in meinem Büro. Noch immer von Cyrils Eskapade genervt, erhob ich mich von meinem Platz und ging zu meinem Schreibtisch. Mein Handy checkend, räumte ich bereits meine Sachen in meine Umhängetasche, da für mich der heutige Abend gelaufen war. Deirdre hatte mir eine Nachricht geschrieben. Meine Laune hob sich wieder ein wenig, da die Aussicht auf Alkohol und einen lustigen Abend lockte. Schnell tippte ich ihr eine Antwort und machte mich auf den Weg.
Voller Vorfreude legte sie den Weg zum Waisenhaus in schwungvollen Schritten zurück und bog nach dem durchqueren der Eingangshalle in den Gang des Ostflügels ab. Unweigerlich flimmerten lebhafte Bilder der gestrigen Nacht vor ihrem geistigen Auge. Mit geröteten Wangen fragte sie sich, was Gabriel wohl gerade machte, ob er sich in der Nähe aufhielt und, ob er auch an sie denken musste. Nach dem unerwarteten Aufeinandertreffen im Foyer hatte sie überrascht herausgefunden, dass der fremde Junge eigentlich gar kein Junger mehr war und ab heute als Erzieher in den hiesigen Gefilden arbeiten würde. Das war schon ganz schön harter Tobak für den angehenden Schützling gewesen, aber es änderte letztendlich nichts an ihren Gefühlen für den gepiercten Blondschopf. Vor allem nicht, wenn man in Betracht zog was danach noch alles passiert ist. Vor der Tür des Büros angekommen klopfte sie zur Ankündigung gegen das edle Holz und trat nach verbal erteilter Erlaubnis ein. Die Abgabe des Schriftstücks war innerhalb von Sekunden ruckzuck abgewickelt, da um diese Uhrzeit glücklicherweise niemand anderes die Aufmerksamkeit des Sekretariats beanspruchte. Also trippelte die Braunhaarige zügig wieder davon und passierte den Flur in Richtung Treppe.
Just in dem Moment, als der Blondschopf aus dem Krankenzimmer trat, musste er unweigerlich grinsen. Das hatte er sich nun super eingefädelt, nun musste es nur mehr funktionieren, dass auch ihre Arbeitskollegin mitkommt, dann würde die ganze Sache Fahrt aufnehmen. Doch so schnell sich der Grinser in sein Gesicht geschlichen hatte, so zügig schwächte er auch wieder ab – nicht, dass das noch jemand sehen würde. Mit den Händen in den Hosentaschen spielte er darin mit seinem Feuerzeug. Als er jedoch sein Gesicht erhob und dem Geräusch von Schritten entgegenblickte, erkannte er eine ihm sehr bekannte Gestalt. Ihre seidigen Haare schwangen im Schritttempo des Körpers mit und plötzlich meinte er ihren Geruch wahrzunehmen. “Nojra!“, rief der Norweger mechanisch und schritt auf das Mädchen zu. Während sich sein Körper selbstständig machte um schnell so nah wie möglich an der zierlichen Gestalt zu stehen, versuchte sein Kopf ihm zu befehlen, dass er doch für einen Moment inne halten sollte. Dies tat er auch, als der Blondschopf bereits vor der Schülerin stand und sie von oben herab anschaute. Als sie sich umdrehte, musterte er sie genau und blieb zwangsweise an ihrer Bluse hängen. “Mh. Gibt es heute Schokopudding als Nachtisch?“, fragte ihr Lover brummend und schmunzelte leicht. Warum sie sich hier wohl rumtrieb? In diesem Gang gab es doch nur organisatorische Elemente und seine Wohnung war hier auch nicht aufzufinden. “Geht's dir gut?“, wollte er von ihr wissen. Nach dem gestrigen Abend war sie doch recht zügig wieder verschwunden. Wenn sie nun wieder hektisch und abwimmelnd sein würde, wäre das doch etwas auffällig. Mit den angespannten Händen in den Hosentaschen blickte er sie erwartungsvoll an. Ihre Wege würden sich zukünftig bestimmt des öfteren kreuzen.
Der Tag am Meer würde bestimmt überragend toll werden, da war sich die Vollblut-Wasserratte mehr als sicher. Was konnte schon besser sein, als stundenlang wie ein Fisch durch die Wogen ihres absoluten Lieblingselements zu pirschen!? Richtig, das Ganze ergänzt um den Menschen, dem sie momentan am meisten um sich haben wollte, Gabriel. Mit einem sehnsuchtsvollen Stich im Herzen schritt sie weiterhin schwungvoll durch den erhellten Flur, bis eine ihren Namen rufende, vertraute Stimme ihre flink voreinander gesetzten Füße zum stottern brachte. Wenn man vom engelsgleichen Teufel sprach… Abrupt drehte die Braunhaarige sich im Halbkreis um und schaute dem Erzieher direkt über ihr in das verblüffte, schöne Gesicht. Von einer turbulenten Welle aus berauschenden Gefühle erfasst, schoss verliebte Röte in das ansonsten blasse Gesicht und ein freudiges Lächeln umspielte ihre vollen Lippen. “Was machst du denn hier?”, platzte es unüberlegt aus ihr heraus und mit geschlossenen Augen verpasste sie sich im Geiste eine ordentliche Gedächtnisschelle. Uff, Hayes….flawless! Was sollte er als Angestellter des Waisenhauses schon hier machen? Sightseeing? “Also, ich meine, hast du gerade hier zu tun, oder so?”Smooth… Zum Glück fand der Blick des Hünen ihren mit künstlerischer Freiheit verschmierten Fleck und erkundigte sich nach einem möglichen Schokopudding zum Dessert. Mit einem verlegenen Grinsen fuhr sich die Schülerin wahllos durch die weichen Strähnen. “Hehe...nein, es gab lediglich einen wie üblich unaufmerksamen Levi. Und bei dir so?” Unwillkürlich schloss sie ohne darüber nachzudenken die Distanz zwischen den beiden, nur um kurz darauf unsicher zurück zu stolpern, den Flur hektisch nach etwaigen Augenzeugen absuchend. Auf keinen Fall wollte sie der Grund dafür sein, dass der Blondschopf seinen eben erst neu angetretenen Job gleich am ersten Tag wieder verlor. “Hast du deine neue Bleibe schon bezogen?” Gott, sie wollte sich doch einfach nur in die starken Arme vor ihr werfen, die Nase gegen die muskulöse Brust drücken, seinen intensiven Duft tief einatmen und für immer so verweilen. Ob es ihm genauso ging? “Wie findest du es hier bisher so?” Das aufgedrehte Verhalten des Halbwesens mochte insgesamt sehr unbeholfen wirken, aber wild drauf los zu quasseln erschien ihr gerade die einzig plausible Reaktion, um dem überwältigenden Drang nach Nähe einhalt zu gebieten.
Ihre Röte im Gesicht war unübersehbar. “Wie süß.“, dachte er sich und erinnerte sich an ihr erstes Treffen. Auch da verfärbten sich ihre Wangen manchmal, nun wusste der Norweger wohl auch den Grund dafür. Sie mochte ihn schon von Anfang an. Scheinbar hatte der Hüne sie so überrascht, dass sie nach seinem Treiben im Waisenhaus fragte. Doch das selbe hätte er auch die Schülerin fragen können – oder etwa nicht? “Ich dachte, es wäre spannend, wenn ich dir einfach auf Schritt und Tritt folge. Ist ja sowas wie Arbeit, würd ich mal behaupten.“, konterte der junge Mann relativ emotionslos, hielt ihrem Blickkontakt jedoch stets stand. Sie verfiel wieder in ihr klassisches Schema der Quasselstrippe, was Gabriel ziemlich beruhigte. Wäre sie wortkarg wieder abgehauen, dann hätte er denken können, er war am falschen Platz. Doch anstelle den Sicherheitsabstand zu bewahren, schritt sie dem Blondschopf noch näher. Sollte er einen Schritt zurück wagen? Würde sie das missverstehen? Wäre das problematisch oder… Doch ehe er sich das noch genauer durch den Kopf gehen lassen konnte, stolperte sie auch schon wieder zurück, weshalb der Norweger zügig nach ihrer Hand griff um sie nicht fallen zu sehen. “Pass auf.“, mahnte er und ließ sie wieder los, auch wenn es ihm schwer fiel. Kurz durchatmend horchte er aufmerksam zu, was sein Schützling alles für offene Fragen hatte. Sie wirkte nervös, etwas aufgewühlt – aber es ging ihr doch gut. Oder? Sie lächelte, sie war… fröhlich. “Ganz schön viele Fragen.“, meinte er zu Beginn und kratzte sich am Hinterkopf. “Ich hab am Vormittag meine Sachen hier her gebracht und mich etwas umgesehen.“ Dies sollte nun jegliche Fragen von ihr doch beantworten. Oder etwa nicht? Wie es ihm hier gefällt? Naja, ziemlich prunkvoll, viel zu elegant und alles viel zu groß. Dass man hier Gefahr lief sich zu verlaufen, das verstand der Erzieher nun gut. “Es ist alles sehr groß und weitläufig, nicht?“ Er war sich unsicher, was sie hören wollte. Er war solche Bedingungen nun mal nicht gewohnt, doch der ehemalige Pizzabäcker musste sich halt erst noch einleben. “Was ist ein Levi?“ Nun stellte er die wichtigen Fragen und wollte mehr Infos ergattern, mit wem oder was sie sich gerne herumtrieb. Am Liebsten würde er einen weiteren Schritt auf sie zugehen, die Distanz zueinander verringern und seine Arme um das Mädchen schlingen. Doch das war bestimmt keine gute Idee direkt vor dem Büro der Heimleitung…
Auch der Blondschopf schien in der aktuellen Situation mit einer gehörigen Portion Unsicherheit zu kämpfen. Wie es so aussah, wussten beide nicht so recht, wie sie sich den Umständen entsprechend am besten verhalten sollten. Obwohl der Schülerin die aufregende Verlockung des Verbotenen keinesfalls verborgen blieb, hätte sie lieber die herbeigesehnte Freiheit sich nicht verstecken zu müssen. Auch wenn sie es vielleicht nur zögerlich und ungerne zugab, aber die Angst, dass ihr Liebster aufgrund der ernüchternden Gegebenheiten plötzlich aus diesem wundervollen Traum aufwachen könnte, nagte unaufhaltsam an ihren Überzeugungen. Konnte er sie nicht einfach mit sich ziehen, an sich ziehen, was auch immer und mit einem innigen Kuss jeglichen Zweifel ins Nichts hauchen? Vermutlich nicht… Ein neckischer Kommentar des Hünen riss die Braunhaarige aus ihren sehnsuchtsvollen Gedanken und zauberte ihr ein verständnisvolles Lächeln auf die angespannten Lippen. “Stimmt, damit hättest alle Hände voll zu tun!” Wie sollte er auch sonst auf ihre nervös hervor gestammelten Fragen reagieren? Beim darauffolgenden hektischen Zurückstolpern griff er instinktiv mit einer flinken Bewegung nach ihrer rechten Hand, um ihr eine eventuelle Bekanntschaft mit dem harten Flurboden zu ersparen. Diese beiläufige wie nichtssagende Berührung reichte schon aus, die Gefühle der Nixe noch wilder im buchstäblichen Kreis jagen zu lassen. Wie vom Blitz getroffen versteifte sich der sportliche Körper und die braunen Rehaugen wanderten beschämt über die geschmückte Wand zu ihrer Seite. Noch ehe sie den Mut aufbringen konnte ihre eigenen Finger mit den seinen für einen kurzen Moment zu verschränken, entfernte er sich auch schon wieder ein Stück. Warum sie, nach allem was bereits zwischen ihnen geschehen war, nicht wenigstens eine solche Kleinigkeit zustande brachte, wussten wahrscheinlich nicht einmal die Götter. Im Plauderton antwortete der Erzieher für seine Verhältnisse ausführlich auf die zahlreichen Erkundigungen der aufgekratzten Quasselstrippe und entlockte ihr mit seiner offensichtlichen Verwunderung abermals ein amüsiertes Schmunzeln. “Nicht was, sondern wer! Leviathan ist einer meiner zwei engsten Freunde und der tollpatschigste Engel jenseits des Himmels. Du wirst bestimmt schon bald das zweifelhafte Vergnügen haben ihn kennenzulernen.” Kichernd wanderte ihr Blick abwärts zu dem verschmierten Mahnmal des heutigen Zwischenfalls. Einige Sekunden später suchte sie erneut die grünen Untiefen über sich und musterte das sie umgebende, wunderschöne Gesicht mit einem Ausdruck voller Zuneigung. “Was hast du jetzt noch so vor?”