Das Krankenzimmer ist in seiner Ausstattung zwar nur sehr schlicht gehalten, dennoch können die Ärzte hier beinahe alles finden, was zu Untersuchungen und Behandlungen erkrankter oder verletzter Schüler benötigt wird, denn die Schränke sind gut befüllt. In einer elektronischen Datenbank, auf die die Ärzte jederzeit Zugriff haben, können sie auf Daten der Schüler, wie Blutbilder, Testergebnisse und Krankheitsgeschichten jederzeit zurückgreifen. Neben dem Bett, das sich zu Untersuchungen und Akutfällen direkt gegenüber dem Schreibtisch befindet gibt es in einer hinteren Ecke noch zwei weitere, die von einem Vorhang abgedeckt werden. Es kann mitunter auch vorkommen, dass erkrankte Schüler hier für ein paar Nächte untergebracht werden, um ein besseres Auge auf sie haben zu können und um Ansteckungen zu vermeiden.
Wasabi nickte zufrieden, als Chloe ihr anbot gemeinsam etwas essen zu gehen, sollte es auf der Party nichts geben. „OK!“ Man sah es ihr anhand ihrer schlaksigen Erscheinung vielleicht nicht an, aber sie ließ sich nahezu immer mit gutem Essen bestechen. Ach, es musste nicht einmal besonders gut sein, wenn sie ehrlich war. Solange man ihr etwas zwischen die Beißer steckte, war man Wasabis bester Freund. Ihre Mutter hatte versucht ihr diese bedenkliche Eigenschaft auszutreiben, doch bisher ohne übermäßigen Erfolg. Um Chloe zu demonstrieren, dass es dem Handy gut ging, hielt Wasabi es hoch und klopfte mit den Handknöcheln gegen den Bildschirm. „Alles gut!“ Ihre Eltern hatten ihr vor mehreren Jahren ein bruchsicheres Baustellenhandy geschenkt, das selbst einen Sturz aus dem zweiten Stock überleben würde. Das Handy hatte zwar nicht alle Funktionen, die moderne Smartphones zu bieten hatten, jedoch brauchte Wasabi die meisten Apps sowieso nicht. Hauptsache, sie konnte mit ihrem Handy Telefonate führen, Nachrichten schreiben und Schnappschüsse machen. Das reichte ihr bereits vollkommen. Chloes Zustimmung, die Party als Trio — die Ärztin, die Hausmeisterin und die Erzieherin — zu besuchen, erwiderte Wasabi mit einem breiten Lächeln. „Das wird toll! Ich freue mich schon sooo sehr!“ Sie konnte es kaum erwarten mit ihren zwei besten Freundinnen auf die Party zu gehen. Auch, wenn eine Abweichung vom gewohnten Alltag immer mit einer Portion Bauchschmerzen verbunden war, fühlte Sabi sich gewappnet. Immerhin war sie nicht allein, sondern in vertrauenswürdiger Begleitung. Das einzige Problem war die gähnende Leere in ihrem Kleiderschrank… zumindest was schicke Klamotten betraf. Chloes Angebot klang zwar in der Theorie verlockend, doch den Nachmittag damit zu verbringen durch überfüllte Geschäfte zu streifen, klang in der Praxis schon wieder ganz furchtbar. Wasabi legte nachdenklich den Kopf schräg. „Nein, ich hasse Klamotteneinkaufen. Da sind viel zu viele Menschen und… es ist zu laut.“ Sie schüttelte den Kopf, was ihr ungestümes Haar noch mehr durcheinander brachte. Während sie sich schließlich wieder vom Fußboden erhob und in Richtung der Krankenliege ging, auf die sie sich plumpsen ließ, kam ihr ein Gedanke. „Ich habe etwas gesehen. Am Schwarzen Brett. Da war ein Aushang. Es gibt so einen… Kleider…verleih! Vielleicht finde ich da etwas Schönes? Was meinst du, Chloe?“ Wasabi warf ihrer Freundin einen unsicheren Blick zu. Sie wusste nicht so recht, was sie sich unter einem Kleiderverleih vorstellen konnte. Doch er sollte auf dem Gelände stattfinden, was zumindest besser war, als in die Stadt fahren zu müssen.
Wasabi schien sehr zufrieden damit zu sein, dass sie dann sonst essen gehen würden, wenn es nichts auf der Party geben würde. Chloe war glücklich, denn auch Sabi schien es zu sein. Ihre gute Laune war wirklich ansteckend und so lächelte sie ihre Freundin mit einem glücklichen Gesicht an. Nach dem fatalen Sturz von Sabis Handy, war Chloe wirklich geschockt. Immerhin war es ein Handy, eines der wichtigsten Dinge in der heutigen Zeit. Als sich dann die Griechin auch sofort nach dem Zustand des wichtigen Geräts erkundigt hatte, hielt Sabi es hoch und meinte, dass alles okay sei. Na, da hatte Sabi wohl Glück gehabt. So etwas war kein billiger Spaß. Chloe wusste dies ganz genau, da ihr auch mal ein Handy kaputt ging und dann kam es schlussendlich billiger ein Neues zu kaufen, anstatt es zu reparieren zu lassen. Obwohl das Handy richtig teuer war, aber gut, das jetzige hielt richtig gut, da war Chloe auch froh darüber. „ Dann ist gut, wenn es nicht kaputt ist“, sagte sie zu ihr.
Nachdem Chloe zustimmte, dass sie ja auch zu dritt die Party unsicher machen könnten, war Sabi überglücklich. Auch die Griechin freute sich schon sehr auf die Party. Wahrscheinlich würden die drei Frauen wirklich sehr viel Spaß auf der Party und sicherlich es auch lustig dort haben. Da war sich die Dunkelhaarige doch sehr sicher. „Ich freue mich auch schon sehr auf die Party heute Abend“, sagte sie zu der Grünhaarigen und strahlte über das ganze Gesicht.
Als Chloe ihrer Freundin den Vorschlag gab, dass sie ja einkaufen gehen könnten, war Sabi sofort abgeneigt gegen diese Idee. Sie sagte, dass es dort zu viele Leute gab und es auch laut war. Die Griechin verstand dies, doch auf der Party würde es wahrscheinlich nicht anders zugehen. Vielleicht hatte aber auch Sabi einfach gar keine Lust auf einkaufen. Bevor die Dunkelhaarige etwas sagen konnte, meldete sich ihre Freundin nochmals zu Wort. Sie sagte, dass sie auf dem schwarzen Brett gesehen hätte, dass es ein Kleiderverleih gab und vielleicht würde sie ja dort etwas passendes finden. Chloe nickte zustimmend. „Klar, dann gehen wir dorthin. Die haben sicher auch richtig schöne Sachen, die dir sehr gut stehen“, sagte die Griechin zustimmend und lächelte sie an. „Wann möchtest du denn gehen?“, fragte sie ihre Freundin und wartete ihre Reaktion ab.
Sie war etwas zögernd gewesen, Chloe von dem Kleiderverleih zu berichten. Immerhin wusste die Grünhaarige nicht, was genau sie sich unter einem solchen Verleih vorstellen konnte und ob Chloe überhaupt Interesse hätte, sie zu begleiten. Doch der Vorschlag schien bei der Ärztin auf Zustimmung zu treffen. Glücklich und erleichtert machte sie einen kleinen, sitzenden Hüpfer auf der Krankenliege, die unter ihrem Fliegengewicht glücklicherweise nicht einmal quietschte. „Juhuuu!“, freute sie sich lautstark. Würde momentan ein Patient auf dem Zimmer liegen, hätte man sie inzwischen bestimmt schon rausgeworfen… oder selbst als Patientin eingeliefert. Chloes Frage nach der Wunschuhrzeit war gerechtfertigt, doch überforderte sie Wasabi auch ein bisschen, sodass sie die Fakten erst einmal laut aussprach, um ihre Gedanken zu sortieren. „Du musst ja hier bleiben. Falls jemand krank wird. Oder sich verletzt. Ich muss eigentlich arbeiten. Aber es gibt gerade nicht viel zu tun. Vielleicht kann ich kurz Pause machen für den… Klamottenverleih“, sagte sie nachdenklich und schaute für einige Sekunden mit konzentriertem Blick an die Decke. Wie lange dauerte so ein Verleih wohl? Wasabi war nicht besonders wählerisch. Solange die Kleidung nicht vollkommen aus dem Rahmen fiel — sie dachte da an Federn und Pailletten — würde sie den Fetzen tragen. „Gleich muss ich einmal in den Westflügel. Da ist ein Waschbecken kaputt“, erklärte sie schließlich und rutschte langsam von der Liege. „Können wir um elf Uhr gehen?“, fragte Wasabi nach einem kurzen Blick auf ihr Handy. Sie konnte sich vorstellen, dass bis dahin ein Kollege von Chloe verfügbar sein würde, um kurz einzuspringen. Am liebsten würde sie jetzt sofort gehen, aber sie wusste nicht einmal, ob der Verleih so früh schon eröffnet war. Geduldig wartete Sabi Chloes Antwort ab, bevor sie den Ort, den sie auf dem Aushang abgelesen hatte, mit der Ärztin teilte. „Der Verleih ist in der Aula.“ Sie war allmählich von der Liege gelitten und sich in die Mitte des Raums bewegt, von wo aus sie zur Tür schlenderte. Im Türrahmen blieb sie stehen und winkte Chloe zum Abschied zu. Da sie sich ja in wenigen Stunden wiedersehen würden, verzichtete Wasabi auf eine extravagante Umarmung. „Tschüssi.“ Fröhlich machte sie sich auf den Weg zu ihrem ersten Einsatz. Vielleicht würde sie aber noch einen Zwischenstopp beim Frühstücksbuffet machen.
Sabi war schon richtig aufgeregt. Ob es an dem Ball lag, oder vielleicht daran, dass sie nachher für sie ein passendes Kleidungsstück suchen würden? Wahrscheinlich an beidem. Chloe war glücklich und fand es niedlich wie Sabi sich so sehr darauf freute.
Anschließend sagte die Grünhaarige, dass Chloe ja noch hier arbeiten musste, falls jemand verletzt werden würde, oder krank werden würde und erklärte anschließend, dass sie auch noch ein Waschbecken reparieren musste. Es schien so, als ob es viel zu tun gäbe und Sabi schien sich auch nicht so sicher zu sein, ob sie wirklich zu diesem Kleiderverleih gehen könnte. Die Schwarzhaarige würde dies nicht zulassen. Sabi musste dort unbedingt hin, auch wenn sie ihre Arbeit übernehmen würde, sie würde es für ihre Freundin auf jeden Fall tun. Immerhin hatte sie sich so sehr darauf gefreut. Doch bevor die Griechin etwas sagen konnte, fragte Sabi schon, ob sie sich um 11 Uhr nicht treffen könnten und dann dort zusammen hingehen könnten. „Na, klar. Ich freu mich schon sehr“, sagte sie zu ihrer Freundin und lächelte sie an. Sie erklärte dann noch, dass der Verleih an der Aula stattfinden würde. „Ok, dann 11 Uhr, in der Aula“, bestätigte Chloe nochmals. Anschließend machte sich Sabi schon auf den Weg zur Reparatur des Waschbeckens.
Um die Zeit noch gut zu nutzen, fing Chloe an ein Buch über Medizin zu lesen. Sie liebte es sich fortzubilden und hier gab es mehr als genug Bücher über Medizin. Als sie später auf die Uhr sah, sah sie, dass es schon fast 11 Uhr war. Oh nein! Die Verabredung. Sofort schlug Chloe das Buch zu, schrieb auf einem Zettel, dass sie sich in der Aula befinden würde, klebte diesen außerhalb auf die Tür und machte sich anschließend auf den Weg zur Aula. Da fiel ihr ein, dass ja eigentlich Arata noch vorbei kommen wollte. Ob ihm wohl etwas dazwischen gekommen war? Möglich wäre es und anscheinend war das Medikament doch noch nicht so dringend. Doch nun wollte sie sich ganz auf Sabi konzentrieren.
Keuchend schleppte ich mich zum Krankenzimmer. Nach dem die Wirkung des Alkohols einigermaßen nachgelassen hatte, realisierte ich erst das es mir schlechter ging als vermutet. Wieder einmal fragte ich mich, was bloß mit mir los war. Ich weiß, dass dies einer der Gründe war weshalb ich hier hin geschickt wurde: der irrationale Blutdurst. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass dieses Problem sobald wieder auftreten würde. Des weiteren: warum wurde nur ich hier hin geschickt? Was war mit meinem gestörten Zwillingsbruder Dean? Oder konnte meine liebe Familie nur mit einem von uns fertig werden und er war das kleinere Übel? Ich lachte verbittert über diesen Gedanken und klopfte an die Tür des Krankenzimmers, nur um sie kurz danach zu öffnen. Ich hatte keine Zeit für Höflichkeiten. Ich war schon froh, dass ich niemanden auf dem Weg hier begegnet bin. Als ich die Tür öffnete begrüßte mich die gähnende Leere. Niemand war hier. Perfekt. Mir war es sowieso schon unangenehm diese Dinger nehmen zu müssen, wenn ich dann auch noch danach fragten müsste…erniedrigend. Ich schloss die Tür hinter mir lauter als geplant, aber ich hatte auch keine große Lust auf ungebetene Gäste. Als ob die Situation nicht schon blöd genug wäre, hatte ich auch keinerlei Ahnung wo man solche Kapseln aufbewahren würde. Sicherlich nicht für jedermann sichtbar. Es half alles nichts. Ich öffnete die ersten Schubladen und wühlte darin rum bis ich feststellte, dass sie dort nicht waren. So erging es mir mit den übrigen Schubladen und einigen Hängeschränken, deren Inhalt teilweise herausgefallen war. Kurz sah ich auf den Boden und überlegte, ob ich die Dinge wieder wegräumen sollte. Lachend schüttelte ich den Kopf. Welch ein Gedanke. Für so etwas gab es bestimmt Angestellte oder andere die hier arbeiteten. Das hier war schließlich ein Notfall. Schließlich kam ich zu einem Schrank, der nicht so leicht zu öffnen war. Das schrie ja nach Medikamenten. Es brauchte ein wenig Kraftaufwand, aber letztendlich bekam ich auch den Schrank auf und endlich fand ich etwas. Voller Freude drückte ich die große Packung an mich und hätte am liebsten alles mitgenommen, aber das hätte meinen ganze erarbeitete Kontrolle nur zunichte gemacht. Dennoch griff meine Hand direkt nach mehreren Blutkapseln, statt nach einer und ich hätte so gerne alles in den Mund genommen. Dieses berauschende Gefühl keine Grenzen zu haben und alles zu können was man möchte. Es war schwerer als sonst den Blick von den ganzen Blutkapseln zu lösen und noch schwerer sich nur eine zu nehmen, aber irgendwie gelang es mir, was wiederum sowohl Stolz als auch Enttäuschung in mir auslöste. Trotzdem, eine reichte aus und als sich der leichte Geschmack von Blut in meinem Mund ausbreitete und die übrige Wirkung eintrat, waren meine Gedanken zwar wieder klarer, aber jetzt war es umso schwerer nicht doch die ganze Packung mitzunehmen. Hastig füllte ich meine Dose mit den Blutkapseln, stopfte so viel rein wie es nun mal ging und eventuell verirrten sich aus zwei oder drei oder auch sieben der Kapseln in meiner Jackentasche und damit rannte ich aus dem Krankenzimmer und machte mich auf den Weg in mein Zimmer. Es war spät und kaum zu glauben, dass morgen wieder ganz normal Schule stattfinden sollte. Wer plante so etwas? Jedenfalls würde mir ein wenig Schlaf gut tun, heute Abend war schon genug passiert, da brauchte ich nicht noch eine böse Überraschung.
Mit leichten und fröhlichen Schritten bewegte ich mich durch die Hallen des Waisenhauses, nachdem ich mit meinem Auto an diesem angekommen war und es brav draußen geparkt hatte. Sah man bestimmt nicht so gerne hier, wenn Mitarbeiter mit ihrem Auto in die Eingangshalle reinfuhren. Ich wusste nicht genau, ob ich heute um diese Uhrzeit im Krankenzimmer eingeplant war - aber es konnte ja nicht schaden, nach dem Rechten zu sehen und zur Verfügung zu stehen, sollte sich ein Schüler dorthin verlaufen. Da heute kein Unterricht stattfand waren die meisten Kinder sicherlich noch hier, wenn nicht sogar noch am schlafen; aber es war ihnen gegönnt. Viele der Heimbewohner sah ich gerade auch noch nicht durch die Flure streunen.
Beim Krankenzimmer angekommen öffnete ich die Tür voller Energie und Tatendrang, stockte jedoch bei dem Anblick, welcher mich begrüßte. „Wundervoll...“, murmelte ich mir selbst zu und sogleich hatte der Zustand des Zimmers mir den Wind aus den Segeln genommen. Aufgerissene Schubladen, Schranktüren und auf Boden und Schreibtisch verteilter Inhalt. Es sah hier aus, als wäre ein Wirbelwind durchs Zimmer gewütet - oder als hätte jemand nach etwas gesucht. Und das ziemlich unbedacht und unbesorgt, alles wieder an seinen Platz zu bringen. Etwas angesäuert presste ich meine Lippen zusammen, ehe ich dann endlich ins Zimmer eintrat und die Tür leise hinter mir schloss. Wirklich was dagegen tun konnte ich jetzt auch nicht - was passiert war, war eben passiert. Da half einzig und allein, das ganze Chaos zu beseitigen; und zu hoffen, dass nicht wirklich etwas gefährliches gestohlen wurde, sondern jemand nur dringend nach benötigten Medikamenten gesucht hatte. Ich legte meine kleine Tasche auf dem Schreibtischstuhl ab und fing sogleich an, das Chaos zu beseitigen, damit man hier auch anständig arbeiten und Leute versorgen konnte. Wurde das Krankenzimmer denn nie abgeschlossen? Konnte sich jeder hier immer bedienen? Vielleicht sollte ich da mal mit meinen Kollegen drüber sprechen, eventuell sogar mit dem Heimleiter. Aber ich bezweifelte, dass da noch nie jemand vor mir dran gedacht hatte - doch die Tür sah nicht so aus, als hätte sich jemand gewaltsam Zugriff verschaffen. Kopfschüttelnd schloss ich die letzte Schublade und ließ einen prüfenden Blick durch das Zimmer gleiten; schien alles wieder aufgeräumt zu sein! Das Aufräumen hatte mich nichtmal 10 Minuten gekostet, davon sollte ich mir garantiert nicht die Laune verderben lassen.
Ich schnappte mir meine Handtasche und hing sie locker über den Stuhl, auf welchen ich mich nun fallen ließ. Eigentlich hatte ich vorgehabt, irgendetwas sinnvolles zu tun, während ich hier rumsaß, doch stattdessen stützte ich meine Ellbogen auf dem Schreibtisch ab und platzierte mein Kinn auf meinen Händen, während ich verträumt aus einem der Fenster schaute. Für ein paar Minuten war es bestimmt nicht so schlimm, wenn ich meinen Gedanken etwas nachhing... welche sich auch sehr schnell bei Deirdre und dem gestrigen Abend wiederfanden.
Vielleicht hätte sich der Engel doch lieber für die Idee mit Mike entscheiden sollen, der Weg wäre jedenfalls um einiges kürzer gewesen. Auch ein Outfitwechsel hätte im Moment viel zu viel von jener Energie gekostet, die Leviathan definitiv nicht hatte, weshalb er tatsächlich genauso gekleidet wie wohl vor dem Zubettgehen und zombiegleich durch die Gänge des Osttraktes schlenderte: Barfuß, das weiße Hemd mit den Rotweinflecken, den Hosenträgern und der Fliege, die nur noch am seidenen Faden hing. Der Kragen, der auf einer Seite aufstand, auf der anderen jedoch ziemlich plattgedrückt war. Die obersten 3 geöffneten Knöpfe des Hemdes waren wohl das einzige, was noch an @Ivy s Honigschandtatenversuch erinnern könnte. Die dunkelblaue Hose, die sich über den Abend hinweg erstaunlich gut erhalten hatte. Lediglich das Hosenbein war halbherzig nach oben gestülpt. Immer wieder stützte sich der Schwarzhaarige an den Wänden ab, einerseits, um neue Kraft zu tanken und anderseits, um das Gleichgewicht überhaupt halten zu können. „Eheh.. ja.. Mor-*hick*-gen“, begrüßte er die Vorbeitrabenden auf dem Weg in den Speisesaal mit einem qualvollen Lächeln. Unten angekommen reckte es ihn heftig, als ihm der Geruch von frisch gebackenem Weißbrot in die Nase stieg. „Oke, Levi.. nicht mehr weit.. gleich hast du es geschafft.. vorbei an Tuntstells Büro.. ganz unauffällig.. alles ist so wie immer..“, versuchte sich der Engel selbst zu beruhigen, als er sich den Wänden entlang bis hin zum Krankenzimmer schlängelte. Mit allerletzter Kraft aber doch etwas zu energisch drückte der Schüler die Türklinke nach unten und schälte sich durch den Türrahmen, ließ die Tür hinter sich aber offen. „Frag nicht.“ Die Arme des Engels hingen schlaff vor seinem Körper und schienen ihm den Weg zu leiten, als er in stark gekrümmter Haltung geradewegs auf das Krankenbett zusteuerte. „Ich wurde vergiftet und brauch'… *hick*.“ Die letzten paar Schritte hatte Levi aber nicht mehr geschafft oder wollte es nicht mehr schaffen, weshalb er sich mit dem Bauch nach vorne auf die weiche Matratze des Bettes fallen ließ und auch sein Gesicht geradewegs in das Kissen eingrub. „.. ein Gegengift. *hick*“, kamen die letzten Worte dumpf aus Levis Richtung, der wie ein Häufchen Elend da lag. Kein einziges Mal hatte er seinen Kopf auch nur einen Centimeter nach links gedreht zu der Seite hin, wo die vermeintliche Roxy an ihrem voll wichtigen Schreibtisch hockte und verträumt nach draußen blickte. „Die Kondome *hick* hättest du dir übrigens auch *hick* sparen können“, nuschelte er weiter und war sich nicht wirklich sicher, ob sie dieses dumpfe Fispeln überhaupt verstehen konnte. Ob sich überhaupt irgendjemand an ihrer liebevoll platzierten Schale im Ballsaal bedient hatte? Bestimmt waren daraus wieder nur Wasserballons entstanden oder so.
Ich saß wahrscheinlich viel zu lange hier rum und träumte vor mich hin, ohne irgendetwas bemerkenswertes zutun - aber zu meinem Glück war ja sonst auch niemand hier, der es mir vorhalten konnte. Und solange es keine Patienten gab, schrie auch nichts dringend nach meiner Aufmerksamkeit. Zumindest für einige Momente nicht, doch dann änderte sich das auch schlagartig. Auf der einen Seite hatte ich gehofft, dass sich irgendwer hierhin verirren würde, sodass ich etwas zutun hatte; auf der anderen Seite aber hoffte ich auch, dass die Schüler sich nicht zu sehr abgeschossen oder verletzt hatten, oder gar meine Kollegen. In genau diesem Moment aber hörte ich, wie die Türklinke runtergedrückt wurde und mein Blick schnellte zur Tür, welche sogleich auch aufging und ein kleines, großes Häufchen Elend reinschlurfte. Der Anblick des Schülers schockierte mich kurz und ich könnte schwören für eine Millisekunde ein Flashback zum ersten Werwolfangriff gehabt zu haben - Leviathan war ins Krankenzimmer gekommen und bewegte sich wie ein halber Zombie, Haare und Outfit völlig durcheinander, und dazu schien es ihm auch nicht allzu gut zu gehen.
Immernoch völlig perplex beobachtete ich den jungen Mann wie er durch das Krankenzimmer schlich, sogar vor sich hin redete und mich mit seinen Worten absolut verwirrte. Er hatte mich noch kein einziges Mal angeschaut, als wüsste er auch so wer hier gerade saß - aber wenn er dies wirklich täte, sähe seine Reaktion sicherlich anders aus. Erst als der Schwarzhaarige sich aufs Bett fallen ließ und etwas in die Matratze murmelte war mir ganz klar, dass ich nicht die Person war, die er hier erwartete; natürlich war ich das nicht. Sicherlich war er es gewohnt, dass irgendeiner meiner Kollegen hier stationiert saß, und nicht jemand, den er seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen hat. Nervös biss ich mir auf die Unterlippe und betrachtete den kläglichen Ablick, den Levi abgab, und atmete tief durch. Erstmal musste ich alles verarbeiten. Es war zwar nicht die Art von Wiedersehen, auf die ich gehofft hatte, aber es war klar, dass der Engel Hilfe brauchte. Langsam erhob ich mich von meinem Stuhl und ging zu der Tür des Krankenzimmers, um diese zu schließen. Mit meiner Hand noch auf der Klinke senkte sich mein Blick kurz und ich überlegte, ehe ich mich erneut umdrehte und gemächlich zum Krankenbett ging. „Ich habe mir unser Wiedersehen viel herzzereißender vorgestellt“, sagte ich sanft und war beim Bett angekommen, bei welchem ich mich kurzerhand auf die Bettkante nahe Levis Kopf setzte. Erst jetzt fiel mir auf, dass auf seinem Kopf und Nacken Gänseblümchen wuchsen - was zur Hölle hatte dieser Junge gestern Abend erlebt?! Auf jeden Fall schien es das komplette Gegenteil von meinem Abend gewesen zu sein. Ich hob meine linke Hand und kam Levis Kopf näher, zögerte jedoch kurz. Es bestand definitiv die Gefahr, dass er absolut nicht gut auf meine Existenz hier reagierte, wütend wurde und sich vielleicht auch gar nicht von mir behandeln lassen wollte; das würde dann eine ganz andere Art von herzzereißend werden, als ich es wollte. Mit einem leicht mulmigen Gefühl legte ich meine Hand schließlich doch auf Levis Hinterkopf und fing an, ihn sanft zu streicheln. „Levi, warum hast du Gänseblümchen auf dem Kopf? Wie wurdest du vergiftet, was ist passiert?“ Einerseits wollte ich ihm gerne Zeit geben, erstmal auf mich als Person zu reagieren, andererseits jedoch war er aus einem klaren Grund hergekommen, und dabei wollte ich ihm helfen. Es schien nicht so, als wäre er in einer absolut kritischen Lage, es war bestimmt noch genug Zeit, dass er mir die Lage erklären konnte. Die ganze Zeit über strich meine Hand sanft über das Haar des Engels und ich wusste nicht, ob es dazu war um ihn zu beruhigen, oder mich.
Es dauerte, bis sich im Krankenzimmer etwas regte. Für den leidenden Engel am Bett eine gefühlte Ewigkeit – war Roxy überhaupt h- … ja, war sie. Endlich konnte der Schüler Schritte hinter sich vernehmen, hörte, wie die Türe wieder geschlossen wurde. Da die Luftzufuhr in der Position seines Kopfes nicht die optimalste war, drehte er seinen Mordsschädel zur Seite, sodass er aus dem Augenwinkel erkennen konnte, wie sich die Schritte langsam dem Bett näherten. Sichtlich irritiert zog der Engel seine Brauen zusammen, als sein Blick direkt zu jenen Beinen glitt, die irgendwie so gar nicht nach Roxys aussahen. Es fehlte der weiße Kittel und überhaupt, seit wann trug sie solche hochhackigen und laut klackernden Teile? Wäre Levi nicht so am Arsch gewesen, hätte er die Aura jener Ärztin, die anstelle von Roxy wohl heute Dienst im Wohnheim hatte, sofort wahrgenommen. Nach und nach ging ihm ein Licht auf. Es befand sich ein weiterer Engel im Raum und die Stimme, die zunächst folgte, kam Leviathan stark vertraut vor. Die Augen des Schülers weiteten sich, während er sich mit Ellbogen und Unterarmen an der Matratze abstützte und sich so zumindest ein wenig aufrichtete, um sein Blickfeld etwas, vor allem nach oben hin zu erweitern. „Amélie?!“ Wohl einzig und allein dem Schockzustand war es zuzuschreiben, dass er es schaffte, zunächst ohne Schluckauf zu sprechen. Seine Kinnlade klappte nach unten und verfolgte die Ärztin mit jedem Blick, während sie sich neben seinem Kopf auf die Bettkante setzte. Für einen nicht all zu kurzen Moment verharrte der Engel in seinen Gedanken. War das jetzt wieder eine seiner Halluzinationen, von denen er in letzter Zeit immer öfter geplagt wurde? Bestimmt war es nur eine Halluzination. Amélie hatte die Insel vor vielen Monaten verlassen, was eigentlich kein Wunder gewesen war. Das Urrudel hatte ihr damals stark zugesetzt. Was passiert wäre, wenn der Engel nicht eingesprungen wäre, möchte sich heute niemand ausmalen. Amélie und Leviathan hatte genau dieses Erlebnis verbunden – kein Wunder also, dass der Schüler bei ihrem Abschied leicht trotzig reagiert hatte. Sie hatte irgendetwas wohl sauwichtiges in ihrem Tun als Engel zu erledigen. Levi konnte sich nicht erinnern, was es genau war. Er weiß nur, dass er sich mit einem „Ok … dann tschüss.“, von ihr verabschiedet hatte. Eine Entscheidung, die er nur wenige Tage später bereut hatte. Die Hand auf seinem mit Gänseblümchen dekorierten Alkschädel riss den Jungen aus seinen Gedanken und versicherte ihm, dass es sich diesmal um keine Halluzination handelte. Es war tatsächlich Amélies Hand, die beruhigend über seinen Hinterkopf strich. Die Augenweide, wie er sie früher gerne in seinen Gedanken tituliert hatte. Und es in just diesem Moment wieder tat. Oke, scheiße, jetzt bereute Levi es doch, dass er nicht kurz einen Abstecher ins Bad unternommen hatte. Es war schon arg, was er ihr zumutete. „Du bist zurück?“, fragte er sie und hatte kurzerhand den eigentlichen Grund vergessen, warum er sich wie ein sterbender Schwan ins Krankenzimmer gequält hatte. Die Fragen der Ärztin kamen irgendwie zwar an, waren aber im Moment nebensächlich. Ablenkung war schon etwas Feines. Nun stütze sich der Schwarzhaarige auch mit den Handflächen am Bett ab, um sich gänzlich hoch zu raffen und aufrecht in einer Art Schneidersitz auf der Matratze an Amélie gewandt zu hocken. Seine Fußsohlen berührten sich dabei und mit seinen Händen stützte er sich an seinen Füßen ab. Das war etwas zu viel Aktivität für den versoffenen Zustand, in dem sich Levi gerade befand, woraufhin sich sein Kopf und Magen auch gleich dafür bedankten. Schmerzerfüllt kniff der Schüler kurz seine Augen zusammen. „Was… also, wie… *hick* also…“, begann er neben hicksend auch etwas stotternd. „Warum bist du zurück?“, fragte er sie geradeaus und merkte erst etwas zu spät, dass es vielleicht zu hart geklungen haben könnte, weshalb er noch gleich ein „…bleibst du diesmal *hick* länger?“, dranhing und Amélie fast schon mit bettelndem Hundeaugenblick fixierte.
Es dauerte wirklich nicht lange, bis der Grosche bei Levi gefallen war. Ich musste zugeben, dass der Anblick von dem Engel mich doch amüsierte. Ganz geschockt starrte er mich an und sogar sein Mund stand offen - ja, so hatte ich mir seine Reaktion eher vorgestellt! An meinen Namen schien er sich ja auch zu erinnern; wobei ich jetzt schon ausschließen konnte, dass er sich nur kaum oder vage an mich erinnerte. Da arbeiteten definitiv eine Menge Zahnrädchen in seinem Kopf, und diese Reaktion schenkte man sicherlich nicht jedem Typen, den man einmal in seinem Leben kurz getroffen hatte und dann wahllos nach einiger Zeit mal irgendwo anders wiedersah. „Hallo, Levi“, sagte ich sanft und konnte mir ein warmes Lächeln einfach nicht verkneifen; es tat so gut, ihn wiederzusehen und auch endlich von ihm wahrgenommen zu werden. Das Wiedersehen gefiel mir jetzt schon tausendmal besser als unser Abschied, der relativ kurz und kühl verlaufen war. Dieser war auch der Grund, weswegen ich mir niemals sicher sein konnte, ob Leviathan sich noch nach mehr als einem halben Jahr an mich erinnern würde und wie präsent die Erinnerung an mich war.
Auf seine erste Frage hin antwortete ich lediglich mit einem Nicken, während noch immer ein Lächeln auf meinen Lippen lag. Ich schaute dem Jungen dabei zu, wie er sich wieder aufraffte und hochhievte und schlussendlich in einer Art Schneidersitz endete, die ihn irgendwie ziemlich kindlich und süß aussehen ließ. Andererseits aber fiel mir auch sein zerzaustes Outfit wieder auf und ich fragte mich eneut, was der Schüler letzte Nacht erlebt hatte. Dass er sich die Kante gegeben hat war ja nicht zu übersehen. Als er anfing etwas rumzustammeln und nun doch wieder vor sich hin hickste legte ich den Kopf etwas schief, wandte den Blick aber keine Sekunde von dem Schwarzhaarigen ab. Ich schien ihn ja wirklich ordentlich verwirrt zu haben; da konnte einem der Junge fast schon leid tun. Fast, denn irgendwie war es auch etwas lustig. Die Frage, die er am Ende rausbekam, war äußerst grazil und absolut gar nicht plump ausgedrückt, woraufhin ich unweigerlich auflachen musste. Warum bist du zurück. Da fühlte man sich doch direkt wieder willkommen und geistig in den Arm geschlossen! Levi rettete sich aber unheimlich schnell, indem er noch etwas hinzufügte, und sein Gesichtsausdruck tat den Rest. Mit einem Grinsen auf den Lippen nickte ich energisch. „Ja, ich bleibe diesmal! So lange, bis du dir wünschst, mich nie wieder sehen zu müssen!“ Ich lachte leicht in mich hinein und fühlte mich nun eindeutig viel besser, als die ganze letzte Woche, die ich schon zurückgewesen war. Nicht, dass ich mich die ganze Zeit über schlecht gefühlt hatte, aber jetzt wo er weg war merkte ich erst, dass ich einen Stein auf dem Herzen liegen hatte. „Meine Aufgabe ist erledigt und ab jetzt steht es mir wieder absolut frei, was ich mache und wo ich es mache. Keiner wird mich wieder wegbefehlen“, fügte ich noch hinzu, damit der Engel mich nicht mehr so bettelnd ansehen musste. Immerhin war ich nie überhaupt freiwillig gegangen; es war immer mein Plan gewesen, lange auf Isola zu bleiben, da es ein absolut faszinierender Ort war, mit noch faszinierenderen Leuten. Ich lehnte mich etwas vor und streckte die linke Hand aus, um leicht an dem Gänseblümchen zu zupfen, dass Levi auf dem Kopf sitzen hatte. Mein Blick war auf diesem fixiert, da Levi ja immernoch ein klitzekleines Problem hatte. „Wir können später noch ausgiebig über alles reden, wenn du willst, aber sag mir erst ... was hast du gestern angestellt, Levi?“ Mein Ton war eine Mischung aus Besorgnis und Belustigung und wahrscheinlich spiegelte mein Gesicht dies auch wieder. Ich erhob mich vom Bett und machte einen kurzen Schritt, um mir auch vorgebeugt das Gänseblümchen an seinem Nacken anzusehen und kurz, sanft an diesem zu zupfen. Ob es ihm wohl wehtat? „Mich interessiert auch warum du aussiehst als hättest du drei Tage auf der Straße gelebt - aber fangen wir erst mit der Vergiftung an?“ Ich lehnte mich wieder etwas zurück und setzte mich auf den Stuhl direkt vor dem Bett, während mein Blick aufmerksam auf Levi lag. Das Hicksen hatte sicherlich etwas mit dem "Gift" zutun, das er getrunken hatte, und ich bezweifelte, dass es nur stinknormaler Alkohol gewesen war.