Sie bemerkte das anfängliche Zögern der Nixe auf ihre Umarmung hin, konnte es dieser allerdings nicht übel nehmen. Irgendwie hatte sie sich an die zurückhaltende und manchmal zu höfliche Art ihrer Freundin gewöhnt und außerdem bildete Miko das ideale Gegenstück zu der meist stürmischen und von ihren Emotionen geleiteten Elfe. Ohne viele Worte zu verlieren, bewegten sich die Mädchen auf die Schlange an der Ausgabe zu und warteten dort einige Minuten, ehe sie an die Reihe kamen. Einige Schüler brauchten etwas länger, um sich zu entscheiden, ob sie auf die Beilagen verzichteten, während andere fix ihren Teller der Dame hinter dem dampfenden Essen übergaben und ihre Portion zurück bekamen. Cami konnte sich nur schwer vorstellen, wie man mit dem Essen hier nicht zufrieden sein konnte oder gar an diesem mäkelte und sich stattdessen in irgendwelchen Buden den Magen voll schlug. Sie aß hier bereits seit über zehn Jahren und empfand die Lebensmittelversorgung für ein Waisenhaus als hervorragend. Andererseits war sie nicht wirklich besseres gewohnt, denn Restaurants waren teuer und mit ihrem knappen Budget konnte sie es sich nicht leisten auswärts essen zu gehen. Außer natürlich sie wurde eingeladen, wie es heute Vormittag der Fall gewesen war.
»Aber weißt du was?« Camena hielt kurz inne, um sich Nudeln auf die Gabel zu drehen und diese in den Mund zu schieben. Kauend fragte sie sich, warum Miko dieses Thema ansprach, zuckte jedoch darauf innerlich mit den Achseln. Trotz der Tatsache, dass sie Vegetarierin war, ging sie relativ locker mit dem Thema Fisch und Fleisch um; nicht zuletzt, weil einfach viele ihrer Freunde „Fleischfresser“ waren und sie sich diesbezüglich nicht streiten wollte. »Morgen gibt’s hier Seelachsfilet. Ich hab vorhin kurz auf den Speiseplan geguckt und wenn ich mich nicht geirrt habe … ja, dann gibt es morgen Fisch.«
Mit einem fast schon triumphierenden Lächeln sah sie ihre Freundin an und spießte nun einige Paprikastücke auf, um diese zu verzehren. Das alles spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter und hörte dem Grünschopf weiterhin zu, während ein Teil ihrer Aufmerksamkeit aber auf dem voll belegten Teller vor ihr lag.
»Natürlich ist das nicht schön. Und deswegen werde ich dir morgen auch Gesellschaft leisten, wie eigentlich immer.« Grinsend lachte Cami kurz auf und machte sich gar keine Gedanken darüber, ob dies hier ein typischer Fall des „aneinander vorbei Redens“ war. Auf Interpretationen der Worte ihres Gegenüber hatte sie gerade wenig Lust und wenn Miko etwas bestimmtes von ihr wollte, dann sollte sie es auch einfach so sagen. Ihr Teller leerte sich in einer beachtlichen Geschwindigkeit, sodass bald der Großteil des Belags und mehr als die Hälfte der Nudeln in den Magen der Elfe gelandet waren. Über ihr Gewicht machte sie sich nie Sorgen – es lag wohl in der Natur der Elfen nicht zuzunehmen. Jedenfalls war sie noch nie übergewichtig oder auch nur annähernd pummelig gewesen, soweit sie sich erinnern konnte. »Wieso fragst du? Ich meine … du führst doch was im Schilde.« Mit einem schiefen Grinsen nahm sie einen erneuten Schluck Wasser und ließ den Blick kurz hinter Miko über die restlichen Schüler wandern, bevor sie wieder beide Augen auf die Nixe richtete.

Abwartend und mit einem fast schon zu konzentrierten Blick spielte die Elfe mit einem Stück eingelegtem Ingwer herum. Flüchtig knabberte sie an dem Gemüse, musste allerdings rasch fest stellen, dass man den sauren Essig deutlich heraus schmeckte und schürzte darauf hin angeekelt die Lippen. Da war ihr Paprika und Bambussprossen schon viel lieber, weshalb sie nun jeweils ein Stück aufspießte und sich dieses in den Mund schob, dicht gefolgt von einer Portion Nudeln. Wurde sie eigentlich irgendwann auch satt oder war sie es bereits und merkte dies schlicht weg nicht? Aus ihren sehr tiefsinnigen Gedankengängen wurde das Mädchen von einem unkontrollierten Hustenanfall ihres Gegenüber gerissen. Erschrocken öffnete Camena den Mund und ließ beinahe ihre Stäbchen fallen, als sie fragen wollte, ob Miko Hilfe benötigte oder ob es schon wieder ging. Glücklicherweise linderte sich deren Husten bald wieder und prompt erhielt die Brünette eine Antwort auf ihre Frage. Erleichtert lächelte sie ihre Freundin mit einem Hauch Schadenfreude in den blauen Augen an.
»Geht's wieder?«, fragte sie dennoch, erwartete aber keine Antwort. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, weißt du doch.« Irgendwie hatte Miko immer den Drang sich zu entschuldigen, so kam es der Elfe zumindest vor. Vielleicht war dies auch nur eine Täuschung, weil sie verhältnismäßig selten über Formalitäten, wie Entschuldigungen oder Höflichkeiten nach dachte. Selbst Lehrern gegenüber war sie relativ locker, obgleich in gewissen Situationen natürlich ein gewisser Respekt vorhanden war. Die leichte Röte der Nixe auf diesen Vorschlag hin, ließ Cami grinsen und sie beugte sich etwas vor, den Oberkörper auf der Tischkante abstützend. »Das ist echt lieb von dir, aber in letzter Zeit lass ich mich einfach zu oft einladen. Heute wurde ich zum Frühstück aufgeführt … das war vielleicht eine seltsame Situation. Ich habe erfahren, dass er Lehrer an unserer Schule ist. Du kennst nicht zufällig einen Shinichi Kitami?« Die letzten Worte kamen gemurmelt über ihre Lippen und sie lehnte sich im nächsten Moment auch schon wieder zurück. Vielleicht interessierte sich Miko gar nicht für ihren kleinen morgendlichen Ausflug, aber Camena verspürte gerade ein starkes Mitteilungsbedürfnis, was das anging. »Aber irgendwann gehen wir noch zusammen was essen, versprochen.«
Zwinkernd schob sie das Tablett eine Armlänge von sich und nahm den letzten Schluck Wasser. Das Abendessen war somit verputzt, auch wenn noch einige Nudeln und etwas Gemüse den Teller zierten. Sie war einfach satt für heute.
»Das blaue Kleid? Ich fand das vorher schon so toll … ich kann mir nicht vorstellen, dass du es noch verschönert haben könntest.« Am liebsten wäre die Elfe nun aufgesprungen, hätte ihre Freundin bei sich unter gehakt und mit ihr zusammen zu deren Zimmer spaziert, aber das hätte einen sehr seltsamen Eindruck gemacht. Dennoch deutete sich ihre Vorfreude in ihrer Sitzposition an – auf dem Rand des Stuhls und leicht mit den Beinen zitternd. »Ach Rosie … du hast nicht wirklich Angst vor ihr, oder?« Cami war sich sicher, dass die Magierin niemandem ernsthaft etwas tat und nur das coole Mädchen raus hängen ließ, auch wenn ihre Aura manchmal ziemlich kühl wirkte.
»Aber gut, dann gehen wir zu mir!« Sich nun nicht mehr halten könnend, schob sie den Stuhl zurück und sprang voller Elan auf. Breit lächelnd nahm sie das Tablett bedeutete Miko mit einem Kopfbewegung ihr zu folgen. »Ich arbeite sowieso gerade an einem neuen Cosplay, du musst es unbedingt sehen und deine Meinung dazu abgeben.« Wahrscheinlich waren ihre letzten Worte im Stimmgewirr untergegangen, doch davon ließ sie sich nicht beirren. Zielorientiert brachte sie das dreckige Geschirr zu einem Wagen (dort wurde es gesammelt) und hakte sich schließlich tatsächlich bei Miko unter, um sie zwischen den Schülern auch ja nicht zu verlieren. Auf ging es ihr neues Kostüm zu bewundern!

tbc.: Zimmer 110 – Renai und Camena