Diese Wohnung befindet sich im dritten Stock des Yashidori Wohnbaus und ist mit dem Großteil seiner Räumlichkeiten zum Stadtpark ausgerichtet, auf welchen man von einem Balkon in dieser Höhe einen wunderbaren Ausblick hat. Dieses Domizil schließt direkt an die Wohnung Nr. 17 an, die Balkone beider Wohnungen sind lediglich durch eine untermannshohe Trennwand separiert. Wer im dritten Stock haust muss sich wohl oder übel darauf einstellen, dass nicht nur in den Hochsommermonaten zu fast jeder Tages- und Nachtzeit eine brütende Hitze besteht. Hoffentlich wird die Klimaanlage gut vertragen und sorgt nicht gleich nach der ersten Nacht für eine fette Erkältung!
Betritt man die Wohnung, so steht man in einem kleinen Eingangsbereich, der durch eine weitere Zimmertüre geradewegs mit dem Wohnzimmer verbunden ist. Bleibt man jedoch noch kurz im Eingangsbereich stehen, schließt rechterhand eine kleine Küche an, die über einen kleinen Bogen zu betreten ist. Die Theke der Arbeitsflächen sind zum Wohnzimmer hin geöffnet, es handelt sich bei der Küche also nicht direkt um einen eigenen, geschlossenen Raum, sondern lediglich um eine Küchennische, die man über den Eingangsbereich, oder - wenn man beweglich genugt ist - über einen Sprung über die Halbwand erreichen kann. Der große Wohnbereich teilt sich in einen Ess-, sowie daran anschließend einen schlichten Wohnbereich. Vom Wohnzimmer aus führt eine Türe in das quadratmetermäßig bescheidene Schlafzimmer, eine weitere in ein Badezimmer mit Toilette. An die Wohnecke anschließend erreicht man durch eine große Glasschiebetür den Balkon. Sowohl Wohn-, als auch Schlafzimmer sind mit einer Klimaanlage für die unzähligen, heißen Tage auf der Insel ausgestattet. Für die restlichen Räume wäre es in dieser hoch gelegenen Wohnung wohl auch keine schlechte Idee ... ob sich da etwas machen ließe?
„Ich hab' ein bisschen was gespart.“ Ich grinste Deirdre an, als ich diese Worte sagte - ein langes Leben kam eben mit gewissen Vorzügen. Wahrscheinlich verdienten wir hier ungefähr das gleiche, zumindest hoffte ich das sehr. Vielleicht sollten wir darüber mal reden und zur Not mit dem Heimleiter oder der Direktorin verhandeln. Im Auto angekommen überraschten mich die Worte der Frau neben mir doch schon sehr, weswegen ich etwas verwundert zu ihr schaute. Die Freude stand ihr ins Gesicht geschrieben, und ihre Worte - und gute Laune - erwärmten mein Herz. Etwas verlegen strich ich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und wandte den Blick von ihr ab. „Ich glaube mich hat noch nie jemand cool genannt...“, und eventuell freute mich diese Aussage gerade viel mehr, als sie eigentlich sollte, „... aber es freut mich, dass es dir so sehr gefällt!“ Ich schenkte Deirdre ein letztes Lächeln, ehe ich mich auf das Bedienen des Autos und die Straße vor uns konzentrierte, damit der Abend nicht noch ein tragisches Ende nahm. Da ich hauptsächlich meinen Gedanken während des Fahrens nachhing, kam mir der Gedanke gar nicht, etwas Musik oder ähnliches laufen zu lassen; man hörte nur das sanfte Geräusch der uns befördernden Maschine. Im Moment fühlte ich mich richtig... zufrieden. Ich hatte Anfangs nicht gewusst, was ich von dem Ball hätte erwarten sollen, doch im Endeffekt hatte sich alles irgendwie gefügt und passte zusammen - und ich war mir fast sicher, dass es Deirdre ähnlich ging. Zumindest machte sie nicht den Eindruck, als hätte sie einen schrecklichen Abend hinter sich.
Nach nicht allzu langer Zeit fanden wir uns auf dem Parkplatz vor unserem Wohnhaus wieder und nachdem das Auto zum stillstand gekommen war schaltete ich den Motor aus. Kurz atmete ich zufrieden durch, ehe Dee sich wieder zu Wort meldete und mir durch ihre Worte ein sanftes Lachen entlockte. „Wenn du willst, und unsere Dienstpläne ähnlich sind, kann ich dich gerne öfter mitnehmen.“ Von ihr brauchte ich dafür kein Benzingeld; die Gesellschaft würde mich freuen und war Bezahlung genug. Außerdem hatte sie mir heute Abend ein Los geschenkt, damit hatte sie sowieso etwas Gut bei mir - auch wenn das Los ein Dank für die Blume war, die ich ihr geschenkt hatte. Wenn das so weiterging, würden wir uns dauernd gegenseitig für irgendetwas revanchieren. Ebenso wie Deirdre schnallte ich mich auch ab, drehte mich jedoch erstmal um und kniete mich auf den Fahrersitz, um hinter diesem nach meiner Handtasche zu angeln. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sie einfach achtlos irgendwo hinzuschmeißen. Nach ein paar Momenten jedoch erwischte ich das gute Ding und öffnete nun auch meine Tür, um aus dem Auto auszusteigen. Gesagt, getan, und schon war das Fahrzeug wieder verriegelt und wurde für die Nacht nicht mehr gebraucht. Mit neugewonnener Freiheit musste ich mich kurz ausgiebig strecken und mir enkam schon wieder ein Gähnen; ich war definitiv etwas schläfrig. Ich trat ein paar Schritte an Deirdre heran, ehe wir beide auf die Haustür zusteuerten, und lauschte ihren Worten aufmerksam. Ich grinste das Tierwesen an, als wir durch die Eingangstür schritten und nickte zustimmend. „Ein Glas Wein klingt gut. Jetzt muss ich ja nicht mehr fahren, und einen Kater werde ich davon schon nicht kriegen!“ Ich hatte meine Stimme im Gebäude etwas gesenkt, da es so still hier war, dass es schon fast gruselig war. Okay, nicht nur fast - ich fand es gruselig, aber wenigstens das Licht im Flur war verlässlich und brannte fröhlich vor sich hin, damit wir was sehen konnten. Wir traten in den Aufzug und kurz darauf auch schon wieder aus diesem, ehe wir vor unseren beiden Wohnungen standen. Mit gezücktem Schlüssel stand Deirdre da und ich wollte sie nun wirklich nicht länger aufhalten. „Dann zieh' ich mir eben was bequemeres an und komm' dann rüber!“ Ich winkte ihr kurz mit der rechten Hand zu, ehe ich auch meinen Wohnungsschlüssel aus der Handtasche kramte und meine Wohnung entriegelte.
In diese eingetreten schaltete ich sofort das Licht an, da die Dunkelheit, welche mich begrüßte, mir ganz und gar nicht geheuer war. Anschließend stieg ich aus meinen Schuhen - was mir ein tiefstes, zufriedenes Seufzen entlockte - und nahm diese in die Hand um in mein Schlafzimmer zu gehen und mir etwas bequemeres anzuziehen. Es dauerte ein paar Momente, bis ich mich aus dem Kleid gekämpft hatte und legte dieses behutsam über einen Stuhl, ehe ich mir ein Nachtkleidchen schnappte und mir dieses überzog. Deirdre würde doch sicherlich nichts dagegen haben, oder? Sie war ja kein hormoneller Teenager. Ins Badezimmer getapst löste ich den Zopf meiner Haare und nahm die roten Bänder aus diesen, und die Farbe wurde von meinen Lippen gewischt. Mit einem letzten, prüfenden Blick schaute ich mich selbst im Spiegel an und grinste, ehe ich auch das Badezimmer wieder verließ und beinahe aus der Vordertür gegangen wäre um bei Deirdre zu klopfen - aber dann kam mir eine bessere Idee. Ich öffnete meine Balkontür, woraufhin mich die kühlere Abendluft wieder empfing, und schloss diese hinter mir. Mit nackten Füßen tapste ich zum einen seitlichen Ende meines Balkons und betrachtete die Wand, die meinen und Deirdres Balkon voneinander trennte, befand sie für überwindbar und hob ein Bein, um einfach darüber zu klettern. Ich sah warhscheinlich nicht besonders grazil aus, aber nach ein paar Sekunden stand ich unbeschadet auf Deirdres Balkon, strich mein Kleidchen nocheinmal glatt und trat dann an ihre Glastür, um mit dem Fingernagel meines Zeigefingers dagegen zu tippen; hoffentlich bekam ich dadurch ihre Aufmerksamkeit. Der Gedanke, dass ich ihr dadurch einen Herzinfarkt geben konnte, kam mir in dem Moment überhaupt nicht.
„Würdest du? Das wär toll!“ Freudig legte Deirdre die Hände zusammen und schenkte Amélie ein dankbares Lächeln. „Solange ich dir keine Umstände bereite.“ Den Zusatz konnte sie sich nicht verkneifen. Sie wollte Amélie auf keinen Fall das Gefühl geben ihren schicken fahrbaren Untersatz ausnutzen zu wollen … obwohl das Angebot ja von der Ärztin selbst kam. Solange Amélie es nicht vorschlug, nur weil sie Nachbarinnen waren und sie sich verpflichtet fühlte, wäre Deirdre glücklich darüber eine gelegentliche Alternative zu ihrem Fahrrad und dem Bus zu haben. Und ganz abgesehen von der praktischen Seite der Abmachung, freute sie sich immer über Gesellschaft auf ihrem Weg von A nach B. Sie war wahrscheinlich eine der wenigen Personen, die sich tatsächlich darüber freuten Bekannte zufällig beim Einkaufen und auf der Straße zu treffen.
Sie war zugegebenermaßen etwas nervös was Amélies Antwort anging. Vielleicht war die Brünette einfach zu geschafft und wollte nur noch ins Bett fallen und die Augen schließen. Vielleicht hatte sie überhaupt keine Lust mehr auf Gesellschaft — Deirdres Gesellschaft. Drängte sie sich auf? Das Gefühl hatte sie heute Abend schon mehrmals unwillkürlich gehabt und sie hatte keine Ahnung, ob es unbegründet war oder nicht. Amélie würde ihr bestimmt mitteilen, wenn sie es mit ihrer Kontaktfreudigkeit übertrieb, oder? Bevor Deirdre noch anfing aus lauter Sorgenmacherei zu schwitzen, nahm Amélie ihren Vorschlag zum Glück an. Die Erzieherin atmete erleichtert (und hoffentlich nicht hörbar) aus und steckte lächelnd sowie mit leicht unruhigen Fingern den Schlüssel ins Schloss, um ihre Wohnung zu entriegeln. „Selbst wenn doch, sind wir morgen bestimmt nicht die einzigen mit einem Kater“, kicherte Deirdre, verstummte aber abrupt wieder als ihr Lachen durch den gesamten Flur hallte. Sie wollte das Ausklingen des Abends nicht beenden bevor es begonnen hatte, indem sie einige Anwohner aus dem Schlaf riss. Die Vorstellung einige ihrer Kollegen mit einem brummenden Schädel und Augenringen zu sehen, war aber auch einfach zu köstlich. „Okay, ich auch. Dann bis gleich“, sagte sie halbflüsternd und grinste Amélie noch einmal rasch an bevor sie ebenfalls fürs erste in ihrem Apartment verschwand.
Ohne sich zu viel Zeit zu lassen, schälte Deirdre sich aus ihrem Kleid, das sie vorsichtig auf ihre Bettdecke legte. Das würde sie später wegräumen. Ihre Accessoires landeten vorübergehend auf ihrem Schreibtisch und die Schuhe vor dem Kleiderschrank. Erleichtert wackelte sie ein paar Mal mit den Zehen, um die wiedergewonnene Bewegungsfreiheit zu feiern. Sie liebte hohe Schuhe, ja, aber nach so vielen Stunden auf den Beinen, war es schön endlich wieder barfuß zu sein. Wahllos schlüpfte sie in ein frisches weißes T-Shirt und eine schwarze Schlafshorts; ihre Haare beförderte sie rasch in einen Pferdeschwanz. Mit der Überlegung ihr Make-Up zu entfernen, machte sie sich auf den Weg ins Bad, entschloss sich aber auf halbem Weg dagegen und lief stattdessen direkt weiter in die Küche, wo sie zwei Weingläser aus dem Schrank und eine Flasche Roséwein aus dem Kühlschrank holte. Sie hatte vergessen Amélie nach ihrer Weinvorliebe zu fragen, daher wählte sie einfach den Mittelweg. Zur Not konnte sie die Flasche ja immer noch austauschen. Mit den Gläsern und der Flasche bewaffnet und ihrem Handy unterm Arm geklemmt, warf Deirdre noch einen kurzen Blick in den Spiegel. Amélie müsste jeden Augenblick klopfen, aber sie war soweit fertig. Tatsächlich ertönte einen kurzen Moment später auch eine Art sanftes Klopfen, jedoch nicht aus Richtung der Haustür und eindeutig auf Glas, nicht auf Holz. Verwundert und ein wenig beunruhigt tapste sie durch den Flur ins spärlich beleuchtete Wohnzimmer und verschluckte sich beinahe an ihrem eigenen Speichel als sie Amélie auf ihrem Balkon erblickte. Schnell schob sie die Tür mit dem Ellenbogen auf und sah die Brünette ungläubig an. „Bist du— hast du—?“ Ihr Blick wanderte zu der Trennwand zwischen ihren Balkonen und wieder zurück zu Amélie. Es war kein unüberwindbares Hindernis, aber Deirdre war noch nie auf die Idee gekommen drüber zu klettern. Sie waren immerhin im dritten Stock! „Bist du rübergeklettert? Oh Gott, du hättest runterfallen können! Kannst du nächstes Mal bitte durch die Haustür reinkommen?“ Sie musterte Amélie mit großen, besorgen Augen, die keine Ausreden und kein „Aber“ duldeten. Die Flasche und die Gläser stellte sie währenddessen auf einem kleinen kniehohen Tisch ab, der gegenüber einer gemütlichen Sitzecke für zwei Personen stand. „Tut mir leid, ich—“, murmelte sie und steckte einen Stecker in die Steckdose, woraufhin eine Kette aus kleinen Lampions den Balkon in ein warmes Licht tauchte. Mit einem entschuldigenden Lächeln deutete sie auf die Sitzecke und ließ Amélie den Vortritt, bevor sie sich ebenfalls auf ein weiches Kissen fallen ließ und sich daran machte die Flasche aufzudrehen. „Passt Rosé? Ich müsste sonst auch noch Weißwein im Kühlschrank haben.“ Sie wartete einen kurzen Augenblick auf Amélies Antwort, bevor sie ihnen den Wein einschenkte.
Ich konnte mir ein leises Kichern nicht verkneifen, als ich Deirdres ungläubiges Gesicht sah und ihr Gestammel hörte. Mit einem Nicken bestätigte ich ihre unausgesprochene Vermutung, zumindest war diese für einige Momente unausgesprochen, in welchen die Rosahaarige scheinbar alle Puzzleteile in ihrem Kopf zusammenfügte; zumindest ließen ihre Blicke darauf vermuten. Selbst als Deirdre ihre Gedanken letztendlich in Worte fasste, wich mein Lächeln nicht von meinen Lippen. Ich hatte zwar nicht mit solcher Sorge gerechnet - für mich war es in dem Moment nur eine lustige Idee gewesen - aber ich nahm es dem Tierwesen keinesfalls übel. Immerhin war es ja doch ganz süß, dass sie sich Sorgen um mich machte, wobei dies sicherlich bei sogut wie jeder Person der Fall gewesen wäre. Selbst einen Fremden wollte man kaum aus dem dritten Stock stürzen sehen. „Ist alles gut“, erwiderte ich warm lächelnd auf ihre Entschuldigung, nachdem Deidre eine hübsche Lichterkette angeschlossen hatte und ich das gemütliche Bild vor mir mit funkelnden Augen betrachtete. Deirdres Balkon sollte unser neuer Treffpunkt werden! „Aber du musst dir um mich keine Sorgen machen! Bisher hab ich noch alles überstanden. Außerdem kann ich ja fliegen!“, versicherte ich der Erzieherin und tätschelte ihren Rücken, als ich mich selbst zur Sitzecke bewegte und mich auf ein weiches Kissen fallen ließ. Diese Aussage entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber in einem Notfall konnte ich bestimmt meine Flügel ausstrecken und mich irgendwie bei einem Fall abfangen; selbst mit Schmerzen im Flügel.
Wieder nickte ich auf eine der Fragen Deirdres und hielt ihr mein Weinglas auffordernd hin, während sie uns beiden den Wein einschenkte. Sonderlich wählerisch war ich da nicht, ich konnte sogut wie jedem Wein irgendwas abgewinnen. Ab und zu war mir natürlich mehr nach dem einen, als dem anderen, aber gerade passte alles. Mit der Flüssigkeit im Glas lehnte ich mich entspannt zurück und seufzte zufrieden, den Blick auf den dunklen Park gerichtet, welchen man von hier aus sehen konnte - zumindest im Hellen. Gerade sah man nicht allzu viel von der Welt, außer den Straßenlaternen. „Und..“, setzte ich an, nachdem ich kurz an meinem Weinglas nippte, „.. es hat Spaß gemacht, hier rüberzuklettern. Irgendwie... okay, lach mich jetzt nicht aus, aber irgendwie fühlt es sich dadurch fast so an, als würden wir zusammenwohnen, wenn man über den Balkon geht. Als wäre man nicht alleine.“ Ein zartes Rosa legte sich auf meine Wangen, als ich Deirdre ein kurzes Lächeln zuwarf, ich meinen Blick aber doch schnell wieder abwandte. Wenn man bedachte, wie kurz und wenig wir uns eigentlich kannten, waren meine Worte gerade ziemlich dumm gewesen. Es bestand eine reelle Möglichkeit, dass die Rosahaarige es ganz anders sah, aber mit sowas musste man dann einfach leben. Ich war mir zwar sicher, dass sie mich nicht hasste, aber das hieß noch lange nicht, dass wir alles gleich empfanden. Dabei wollte ich mit meinen Worten nichteinmal etwas Tieferes andeuten - einfach nur, dass ich froh war, eine quasi Freundin nah bei mir zu haben. „Du bist immer auf meinem Balkon willkommen“, sagte ich mit einem weichen Lachen, um die Stimmung etwas aufzulockern. Hoffentlich war sie mir nun wirklich nicht böse wegen meiner Rumkletterei - und hoffentlich missfiel ihr meine ab und an doch recht alberne Art nicht, denn mit solchen Dingen aufhören wollte ich wirklich nicht; und würde ich auch nicht. Vielleicht konnte ich Deirdre ja noch etwas auf meine Seite ziehen, und ehe man sich versah waren wir in ein paar Wochen dann zusammen Bungeespringen!
Sie sollte sich keine Sorge um Amélie machen — leichter gesagt als getan. Sie machte sich Sorgen um die Kinder, wenn der Boden in der Schule frisch gewischt war. Immerhin konnte jemand ausrutschen und sich den Arm brechen. Sie machte sich Sorgen, wenn sie eine fremde Person bei Rot über die Straße gehen sah. Nicht nur könnte besagter Fußgänger angefahren werden, kleine Kinder könnten sich das Verhalten möglicherweise abgucken. Für Deirdre war die Welt voller kleiner besorgniserregender Situationen, weshalb es ihr ganz lieb wäre, gäbe ihr Amélie keinen weiteren Grund dafür nachts kein Auge zuzukriegen. Statt diesen Gedanken jedoch laut zu äußern, schluckte Deirdre ihn herunter und lächelte der Ärztin zu. „Na gut, ich vertrau dir.“ Ein leises und leicht frustriertes Seufzen konnte sie dennoch nicht verkneifen, bevor sie sich ebenfalls auf die Sitzgelegenheit fallen ließ. Das Argument, dass Amélie ja Flügel hatte, beruhigte das Gemüt der Erzieherin ein bisschen. Außerdem schätzte sie ihre Nachbarin nicht als lebensmüde oder unzurechnungsfähig ein. Hätte Deirdre es hier mit einer offensichtlich impulsiven und risikofreudigen Persönlichkeit zu tun, würde es ihr deutlich schwerer fallen sich zurückzulehnen, ein wenig zu entspannen und den Abend mit Amélie ausklingen zu lassen. Sie tat es Amélie nach und nippte an ihrem Wein, wobei sie den Drang zurückhalten musste sich zu erkundigen, ob der Rosé auch schmeckte. Denn auf Deirdres Zunge breitete sich lediglich ein kaum merkbarer Hauch von Säuerlichkeit aus, der sich geschmacklich kein Stückchen von anderen Weinsorten abhob. Da es ihr ohnehin eher um die erheiternde Wirkung ging, machte sie sich selten die Mühe teuren Wein zu kaufen. Die Flasche, die sie heute geöffnet hatte, war ebenfalls nur Mittelklasse, wenn man es freundlich ausdrücken wollte. Insgeheim hoffte sie, dass Amélie kein Weinkenner war, denn mit diesem Wein beeindruckte man niemanden.
Die Worte der Brünetten überraschten Deirdre etwas. Nicht auf eine negative Art und Weise, eher im Gegenteil. Ein heiteres Lächeln erschien auf ihren Lippen und sie musste ein wenig kichern, was Amélie hoffentlich nicht falsch auffasste. Sie lachte ihre neue Freundin keinesfalls aus. „Du, jetzt wo ich weiß, dass du direkt neben mir wohnst, bist du sowieso nicht mehr allein. Dazu musst du nicht mal auf meinen Balkon klettern.“ Auch wenn Amélie meinte es hätte ihr Spaß gemacht, würde Deirdre verhindern wollen, dass es zur Gewohnheit wurde. Nicht nur aus Sorge um ihre Kollegin, sondern auch weil sie ihre Privatsphäre ein wenig zu sehr schätzte, um zu jeder Tages- und Nachtzeit mit den Blicken ihrer Nachbarin rechnen zu wollen. „Klopf gerne jederzeit bei mir an, egal worum es geht. Ich hab mir schon so lange eine Freundin gewünscht, die direkt nebenan wohnt.“ War das nicht der Traum jedes Mädchens? Die beste Freundin immer in Reichweite zu haben, für spontane Übernachtungen und — da sie nun einmal keine kleinen Mädchen mehr waren — für das ein oder andere Glas Wein nach der Arbeit. Nicht, dass sie Amélie direkt mit der Verantwortung des Titels der besten Freundin belasten wollte, aber insgeheim konnte Deirdre sich gut vorstellen, dass die Zeit sie noch enger zusammenschweißen würde. Zumindest hoffte sie sehr, dass dieser Abend nur der Anfang von etwas Langem und Schönem wäre. Zufrieden seufzend streckte sie die Beine unter dem Tischchen aus und nippte erneut an dem Weinglas. „Und ich wollte mich noch für den schönen Abend bedanken. Ich hatte wirklich niedrige Erwartungen an heute Nacht, weil— na ja, weil ich keine Verabredung hatte und das bei einem Ball irgendwie dazu gehört und so weiter. Im Nachhinein bin ich froh, dass ich niemanden gefragt hab …“ Etwas verlegen trank sie gleich noch einen Schluck und schaute für eine Weile über das Balkongeländer zum Sternenhimmel hoch, bevor ihre Augen vorsichtig zu Amélie wanderten. Hoffentlich ging es der Brünetten ähnlich und Deirdre hatte mit ihren Worten nicht zu dick aufgetragen. Sie wollte diesen schönen Moment durch Überschwänglichkeit nicht unangenehm gestalten, aber sie wollte auch nicht verbergen, wie glücklich und ausgeglichen sie sich gerade fühlte.
Mit jeder verstreichenden Sekunde spürte ich mehr und mehr, wie meine Füße sich von den unbequemen Schuhen der letzten Stunden erholten und entspannten. Als bräuchte ich eine Bestätigung dafür schaute ich kurz zu meinen Füßen runter und wackelte mit den Zehen - alle noch funktionsfähig! Abermals nippte ich an meinem Wein und es fühlte sich an, als würde ich noch weiter in die Sitzecke versinken, so bequem war es hier. So absolut ruhig und entspannend. Deirdre schien auch etwas Vertrauen in meine Kletter- oder Fliegekünste zu fassen; zumindest sagte sie das. Aber das reichte mir auch, immerhin war ich alt genug und brauchte wirklich keinen Vormund, auch wenn es nett gemeint war. „Mit unserer Berufswahl liegt es wohl einfach in unserer Natur, uns Sorgen zu machen“, sagte ich abschließend noch zu dem Thema und schenkte Deirdre ein warmes Lächeln. Übel nehmen tat ich es ihr auf keinen Fall, nein. Aber ich genoss lieber das Vertrauen einer Person, als das ich wollte, dass sie sich um mich sorgte. Und hundertprozentig richtig war meine Aussage auch nicht - es gab genug sadistische Ärzte, oder diejenigen, die es nur des Geldes wegen taten. Bestimmt gab es auch die ein oder andere Person die bei den Erziehern aus der Reihe tanzte; aber dazu zählte Deirdre ganz sicher nicht. Man konnte ihr die Fürsorge quasi schon von ihrem Gesicht ablesen.
Es erwärmte mein Herz, als Deirdre auf meine Worte reagierte und damit einfach nur bestätigte, dass keiner von uns beiden hier alleine sein musste. Und irgendwie freute es mich auch, dass sie das Wort "Freundin" benutzte. Würde man alles korrekt zuordnen und ganz objektiv sein, waren wir eigentlich nur Bekannte; immerhin wusste ich nicht viel von ihr. Wo sie herkam, wie alt sie war, was ihr Lieblingsessen war. Aber was war subjektiver als die Beziehung zwischen zwei Personen? Und selbst wenn ich noch nicht wusste, was ihre Lieblingsklamotten waren - irgendwann würde ich es bestimmt, das nahm ich mir fest vor. „Das Gleiche kann ich nur zurückgeben! Und falls ich nicht Zuhause bin, kannst du mir immer eine SMS schicken, oder mich anrufen.“ Ich schenkte ihr ein aufrichtiges Lächeln, fügte dann jedoch noch etwas hinzu: „Selbst nachts - aber dann bitte nur bei Notfällen.“ Mein Lächeln wurde zu einem Grinsen und ich nippte erneut an meinem Wein - bei diesem Thema waren wir sicherlich einer Meinung. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sie mich ignorieren würde, hätte ich mitten in der Nacht einen Brand, oder so. Aber wenn ich sie aufweckte, nur weil ich Langeweile hatte? Das wäre schon kritischer. Ich horchte neugierig auf, als Deirdre weitersprach und sich für den Abend bedankte. Fast seltsam, da ich nichts besonderes getan hatte - aber ich verstand sie. „Ich hatte auch viel Spaß. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mit einem anderen Kollegen einen schöneren Abend gehabt hätte.“ Ich lächelte in mein Glas hinein und schwenkte es ein wenig hin und her, den Wein darin beobachtend. „Es war sowieso an der Zeit, dass wir uns mal etwas besser kennenlernen!“ Ich hob meinen Blick von meinem Glas und grinste die Erzieherin fröhlich an. Ganz im Sinne meiner Aussage sprach ich auch schon weiter: „Ich hoffe es stört dich nicht, dass ich jetzt frage, aber ich bin doch neugierig: Seit wann bist du schon Erzieherin im Wohnheim? Und wo kommst du ursprünglich her?“ Die Kollegen, so wie auch Schüler, schienen aus allen Ecken der Welt zu kommen und jeder hatte seine eigene, ganz besondere Geschichte. Ich war unheimlich interessiert an Deirdre und welchen Ort sie ihr Zuhause nannte. Als sie mir ihre Flügel gezeigt hatte, erwähnte sie lediglich grüne Wiesen, und das traf auf ziemlich viele Orte der Welt zu. Und wirklich ansehen konnte ich ihr auch nicht, wo sie herkam - die zweifarbigen Haare waren doch bestimmt ein Schmetterlingsding, und nicht der Standard in irgendeinem Land, oder?
Die abschließende Bemerkung, bei der Amélie sich wahrscheinlich nicht einmal viel gedacht hatte, brachte Deirdre für einen kurzen Moment zum Nachdenken. Lag der Ursprung ihrer Überfürsorglichkeit in ihrer Berufswahl oder hatte sie erst wegen ihrer Persönlichkeit diesen Berufsweg eingeschlagen? Letztlich war es wohl dieselbe Frage wie: Was kam zuerst, das Huhn oder das Ei? Es gab Argumente für beide Sichtweisen und doch konnte man keine der beiden vollkommen ausschließen. Bevor sie zu lange ihren eigenen Gedanken hinterherhing — dafür hatte Deirdre später noch genug Zeit — erwiderte sie Amélies Lächeln und hüllte sich zu dem Thema in Schweigen. Womöglich wäre dies passenderer Gesprächsstoff für eine andere Nacht mit einer oder zwei weiteren Flaschen Wein. Heute Nacht sollten sie die Zeit besser nutzen, um sich auf einer oberflächlicheren Ebene kennenzulernen — das war auch nicht verkehrt. Amélie schien es nicht als unangenehm zu empfinden von Deirdre als Freundin bezeichnet zu werden. Die Erzieherin musste zugeben, dass sie diese Bezeichnung wohl oft etwas zu locker und leichtfertig verwendete. Ja, sie würde sogar die Hausmeisterin der Schule als ihre Freundin betiteln, obwohl sie bisher nur eine Hand voll kurzer Gespräche mit dieser geführt hatte. Doch Amélie war für die Rosahaarige schon wirklich mehr als eine berufliche Bekanntschaft. Sie hatten immerhin den ganzen Abend miteinander verbracht und selbst jetzt hatte Deirdre die Gesellschaft der Engelin noch längst nicht satt. Umso mehr freute sie sich darüber, dass das Angebot zu jeder Zeit erreichbar zu sein, von der Brünetten erwidert wurde. „Zählt Langeweile und ein Eisbecher, den ich nicht alleine schaffe, als Notfall?“, grinste Deirdre und fügte kichernd hinzu: „Ich würde dich niemals grundlos nachts aufwecken. Höchstens, wenn meine Wohnung unter Wasser stünde oder so.“ Andere Notfälle, bei denen sie unbedingt Amélie kontaktieren müsste, fielen ihr ehrlich gesagt spontan nicht ein. Aber Deirdre wollte jetzt auch keine Katastrophen herausbeschwören, nicht einmal hypothetisch.
Jetzt brachten Amélies herzlichen Worte sie tatsächlich mehr in Verlegenheit als sie gedacht hätte. Normalerweise konnte sie gut mit Komplimenten umgehen, sodass sie diesen kleinen Ausfall auf den Wein und die lange Nacht schob. Vielleicht auch ein Overkill an netten Worten und Gesten, nachdem sie wochenlang nur die frechen Sprüche der Kinder gewohnt war. Sie musste unbedingt wieder mehr unter erwachsene Menschen gehen. „Dann war es ja für uns beide ein gelungener Abend“, gab sie in einem sanften Ton und mit einem Lächeln zurück, nahm einen Schluck Wein und schlug locker die Beine übereinander. „Ich arbeite hier seit letztem Jahr— nein, halt. Seit vorletztem Jahr! 2013.“ Deirdre hielt seufzend inne und schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Ja, seit zwei Jahren. Ich hab das Gefühl die Zeit rennt hier auf der Insel. Oder geht das nur mir so?“ Jetzt wo sie es laut aussprach, konnte sie wirklich kaum glauben, dass sie seit über zwei Jahren auf dieser kleinen Urlaubsinsel lebte und arbeitete. Die Realisation stand ihr vermutlich ins Gesicht geschrieben. „Und ich komme eigentlich aus Kanada, aber ich kann dir nicht viel über das Land erzählen. Das klingt jetzt wahrscheinlich ungewöhnlich, aber ich bin in einer kleinen Stadt nur für Schmetterlingswesen aufgewachsen. Weißt du wie alt ich war als ich herausgefunden hab, dass Menschen ohne Flügel existieren? Sieben.“ Kichernd nippte sie an ihrem Wein. Ein kleiner Teil von ihr hoffte, dass Amélie sie nun nicht als Hinterwäldler oder Sonderling abstempelte. Nicht, dass sie der Brünetten so eine vorurteilsbehaftete Einstellung zutraute, aber es hatten sie schon viele Menschen in ihrem Leben angelächelt, um schließlich hinter ihrem Rücken zu lästern. Doch, wie sie schon sagte, setzte sie Vertrauen in Amélie und das begrenzte sich nicht nur auf das Balkon-Kraxlern.
Ich war fast schon etwas traurig, zu sehen, wie die Sonne wieder aufging. Vielleicht war es nur wegen dem eingehämmerten Wissen, dass man nachts schlafen sollte und tagsüber aktiv - oder aber es war der Gedanke, dass ich nicht einfach bis 13 Uhr ausschlafen konnte. Ja, dieser war es eher. Meines Wissens nach hatten die Schüler am morgigen Tag keine Schule, was gut für sie war, aber als Erwachsener hatte man diesen Luxus oft nicht. Gerade morgen erwartete ich einige verkaterte Schüler, doch hoffte ich, dass sie nur deswegen nicht ins Krankenzimmer schlurfen würden. Immerhin mussten viele hier doch schon Erfahrungen damit gemacht haben, sie wussten sich schon selbst zu helfen - hoffentlich. Ich schenkte Deirdre ein Grinsen, als sie über Langeweile und Eisbecher sprach. Auch wenn es nur Spaß war überlegte ich, wie ich in der Situation wohl reagieren würde. Die lockere und wache Person in mir wollte sagen, dass diese Situation absolut okay war, aber in Wahrheit wäre ich wahrscheinlich mehr als grummelig, würde man mich wegen sowas aus dem Schlaf reißen, den ich oft schon nicht genug bekam.
Ich tat es Deirdre gleich und nippte erneut an meinem Weinglas, welches sich langsam aber sicher dem Ende neigte; noch ein paar mal nippen, oder ein großer Schluck, und weg war die Flüssigkeit. Aufmerksam lauschte ich meiner Kollegin und schaute sie dann etwas verwundert an. „Seit 2013?“ Krampfhaft versuchte ich mich an sie zu erinnern, als ich das erste Mal hier als Ärztin im vergangenen August angefangen hatte, doch schaffte ich es nicht. Damals hatte ich sie - meines Wissens nach - nirgendwo getroffen. „Ich war letzten August hier... aber nur kurz. Vielleicht haben wir uns deswegen nicht getroffen.“ Ich lächelte zuckersüß und sprach es absichtlich nicht an, warum ich weggegangen war; immerhin war es keine angenehme Zeit, und ich sprach nicht gerne darüber. „Aber jetzt bin ich wieder hier, und plane fest, lange zu bleiben!“ Enthusiastisch entschied ich mich für den großen Schluck, den ich vom Wein nahm, und den Rest des Gesöffs damit erfolgreich vernichtete. Das Glas wurde vorsichtig auf dem Tisch abgestellt, während ich Deirdre wieder mit gespizten Ohren lauschte - immerhin hatte ich ihr ja auch Fragen gestellt, da wäre es doch sehr unhöflich, nicht zuzuhören. „Eine Stadt voller Schmetterlinge...“, wiederholte ich und strahlte Dee regelrecht an. „Das klingt wunderschön! Ich würde sie zu gerne mal sehen, aber... dürfen Außenseiter da rein?“ Mir kam der Gedanke nichtmal, dass Deirdre eine Hinterwäldlerin war oder dergleichen - immerhin hatte ich sie hier direkt vor mir und bekam eindeutig mit, dass sie eine clevere und ausgeglichene junge Frau war. Für mich persönlich gab es zwischen uns keine großen Unterschiede; außer, dass sie sicherlich viel jünger war, als ich. Aber für ihre Rasse war sie eine Erwachsene, eben so wie ich - da war es doch egal, wie alt wir waren.
Mein Blick huschte wieder zum Firmament und ich fing an, mich fast schon schuldig zu fühlen, noch nicht im Bett zu liegen - zudem spürte ich die Müdigkeit immer mehr, wie sie auf mir lastete. Ich rutschte etwas näher an Deirdre heran, sodass unsere Beine sich berührten, und lächelte ihr direkt ins Gesicht, welches nicht allzu fern von meinem war. „Ich muss dich jetzt aber leider verlassen, ich glaube es ist schon richtig spät... oder früh.“ Ich kicherte leise und lehnte mich weiter vor, um meine Arme um Deirdre zu legen und sie in einer herzlichen Umarmung für ein paar Momente einzuschließen. „Nochmal danke für den Abend. Schlaf gut“, flüsterte ich leise neben ihrem Ohr und löste die Umarmung dann, um wieder etwas von meiner Kollegin wegzurutschen und schlussendlich aufzustehen. Mein Schlafkleidchen wurde wieder etwas glattgestrichen - damit Deirdre auch keinen Blick auf mein Höschen erhaschen konnte - und ich tapste erneut zur Trennwand der Balkone. Jetzt hatte ich ja kaum eine Wahl, um zurück zu meinem Reich zu kommen - immerhin lagen meine Wohnungsschlüssel in meiner Wohnung! Ich versuchte so grazil wie möglich über die Trennwand zurückzuklettern; ob mir dies auch wirklich gelungen war, wusste ich nicht. Wieder mit den Füßen auf meinem eigenen Balkon stehend drehte ich mich kurz zu Deirdre um und zwinkerte ihr zu, ehe ich auch schon meine Balkontür öffnete, in meine eigenen vier Wände eintrat und die Tür hinter mir wieder schloss.
Auch Deirdres Wein neigte sich langsam, aber sicher dem Ende zu. Ob sie den Inhalt stellvertretend für die allmählich endende Nacht und damit auch Amélies Gesellschaft sehen sollte? Es würde wohl nicht mehr lange dauern bis die Ärztin sich vorerst verabschiedete und ihren wohlverdienten Schönheitsschlaf antrat. Deirdre spiel derweil mit dem Gedanken sich noch etwas Wein nachzuschenken, entschloss sich schließlich jedoch dagegen und gab der Versuchung nicht nach. Sie spürte die Wirkung des Alkohols ohnehin schon anhand ihrer leicht erwärmten Wangen. Ungläubig stieß Deirdre Luft aus, als Amélie ihr mitteilte sie wäre im August letzten Jahres kurz auf Isola gewesen. Von allen Monaten ausgerechnet im August. Das Schicksal hatte es bisher wohl nicht gut gemeint mit einer potenziellen Freundschaft zwischen ihnen. „Und gerade im August bin ich nicht hier gewesen. Was ist das für ein doofer Zufall.“ Sie lächelte entschuldigend, obwohl sie genau genommen nichts dafür konnte, dass sie sich verpasst hatten. Genauso wenig lag es natürlich an Amélie. Es war einfach eine höhere Gewalt, die ein Treffen nicht zugelassen hatte. Deirdre glaubte zwar nicht an das unabwendbare Schicksal, doch ihrer Meinung nach geschah alles aus einem bestimmten, zunächst unersichtlichen Grund. Und bestimmt hatte es einen Sinn, dass sie sich erst heute Nacht zum ersten Mal über den Weg liefen. Amélies Entschluss die Insel so schnell nicht wieder zu verlassen, konnte Deirdre sich nur mit einem heiteren Lächeln anschließen. Abgesehen davon, dass sie keinen anderen Ort hatte, an den sie ohne Weiteres zurückkehren konnte, betrachtete sie Isola inzwischen als eine Art zweite Heimat. Ob es Amélie auch so ging oder ob sie den Himmel womöglich vermisste, würde das Tierwesen zwar gern hinterfragen, doch sie wollte diesen schönen Moment und die Entschlossenheit der Engelin nicht mit Rückfragen trüben. Eine bessere Gelegenheit, um tiefer zu bohren, würde sich sicherlich zu einem anderen Zeitpunkt bieten. Die Begeisterung in Amélies Gesicht war so ansteckend, dass sie Deirdre beinahe etwas verlegen machte. So toll war ihr Städtchen nun auch wieder nicht, oder? Geschmeichelt fühlte sie sich nichtsdestotrotz. Auf eine gewisse Art und Weise empfand sie wohl so etwas wie Nationalstolz für ihre Gemeinschaft. Ein Gefühl, das sie nicht im Entferntesten mit dem Rest von Kanada verband. Mit rosigen Wangen strahlte sie im ersten Moment zurück, bevor sie etwas zögerlicher auf Amélies Frage antwortete. „Das ist etwas kompliziert. Dürfen schon, aber dich würde kein warmes Willkommen erwarten.“ Mit einem entschuldigenden Schmunzeln biss Deirdre sich auf die Unterlippe und zuckte mit den Schultern. In dieser Hinsicht hatte das Reservat ihrer Meinung nach noch einiges zu lernen. Vorsicht gegenüber Fremden zum Schutz der Gemeinschaft war in Ordnung, doch Verschlossenheit der Außenwelt gegenüber würde die Gemeinschaft auf lange Sicht bloß von Innen zerstören. Doch da Amélie wohl kaum an der Politik ihrer Heimat interessiert war, deutete Deirdre schließlich eine abwinkende Geste an und lächelte. „Heißt nicht, dass ich dich nicht trotzdem gern einmal dort hätte. Ich glaube es würde dir dort gefallen.“ Mit einem letzten Schluck leerte die Erzieherin ihr Glas, das sie neben Amélies auf dem kleinen Tisch abstellte.
Spätestens jetzt fühlte sich alles sehr nach Aufbruchstimmung an; die aufgehende Sonne spielte nur weiter in dieses Gefühl hinein. Als sie Amélies Bein an ihrem spürte, war sie bereits drauf und dran zur Seite zu rutschen, um der Brünetten Platz zu machen. Sie verharrte jedoch an Ort und Stelle (sich rühren konnte sie dank Amélie sowieso nicht) und schloss mit einem seligen Lächeln auf den Lippen die Arme um ihre neugewonnene Freundin. Es war so lange her, seit sie sich zuletzt so innig mit einer gleichaltrigen Frau unterhalten hatte. Obwohl es überwiegend nur bei Smalltalk geblieben war, konnte Deirdre das Gefühl nicht abschütteln, dass Amélie ihr vertrauter vorkam als ihre flüchtige Bekanntschaft festschrieb. Vielleicht war es auch nur Wunschdenken von ihr und das starke Verlangen nach einer richtigen, engen Freundschaft. Seufzend löste sie ebenfalls die Umarmung und rutsche etwas nach hinten, um Amélie Platz zu machen. „Ich wünsch dir auch eine gute Nacht. Und tut mir leid, dass ich dich noch so lange wachgehalten hab.“ Mit einem erneuten aufkommenden Seufzer, der ihr in der Brust stecken blieb, schaute sie der Engelin hinterher, wie diese drauf und dran war über die Balkonmauer zu klettern. Da es diesmal nicht anders ging, hielt Deirdre sich mit einer Bemerkung zurück. Als Amélie die Mauer beinahe überwunden hatte und zwischen beiden Balkonen hing, erhob Deirdre sich von der Sitzbank und warf schließlich einen Blick über die Trennwand, um sicherzugehen, dass ihre Nachbarin sicher gelandet war. „Amy, pssst!“, forderte sie noch einmal im lauten Flüsterton die Aufmerksamkeit der Brünetten ein. „Schreib mir gleich noch wie du morgens deinen Kaffee magst, ja? Schlaf gut!“ Mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen winkte sie Amélie über die Wand hinweg zum Abschied zu. Kurz darauf vernahm sie, wie die Balkontür nebenan zufiel.
Unentschlossen tapste Deirdre ans Geländer, stützte die Ellenbogen darauf und legte ihren Kopf in die Hände. Ein Blick aufs Handy hatte ihr verraten, dass es kurz nach halb fünf in der Früh war. Zu spät um sich ins Bett zu zwingen, zu früh um eine Runde laufen zu gehen. Nach dem ganzen Abend in Stöckelschuhen und einem Glas Wein war Deirdre sowieso nicht nach körperlicher Betätigung. Nachdem sie eine Weile den violett-roten Himmel angestarrt und den Abend hat Revue passieren lassen, blieb sie noch für ein halbes Glas auf dem Balkon sitzen, während sie geduldig darauf wartete, dass eine Nachricht von Amélie eintrudelte. Hoffentlich eintrudelte. Erst eine dreiviertel Stunde später, die Deirdre damit verbracht hatte aus dem halben Glas ein ganzes zu machen und sämtliche soziale Netzwerke zu durchforsten, erklärte auch sie ihre Nacht für beendet und huschte ins Haus. Sie machte sich bettfertig, warf einen letzten Blick auf das angeschlossene Handy und fiel in einen ungewohnt friedlichen und erholsamen Schlaf.
nächster Tag . . .
Deirdre hatte für ihre Verhältnisse ungewöhnlich lange und fest geschlafen. Jedenfalls war sie kein einziges Mal aufgewacht. Nicht, dass sie sich erinnern konnte. Dann wiederum fiel es ihr um einiges leichter tagsüber zu schlafen, weshalb sie sich wohl nicht allzu sehr wundern sollte, dass ihr Handy knapp zehn Uhr anzeigte, als sie verschlafen aus dem Bett rollte. Zuallererst zog sie die Vorhänge im Wohnzimmer auf, um das Sonnenlicht hereinströmen zu lassen. Dann öffnete sie zusätzlich eine der Balkontüren und nahm für einen Moment nur die frische Vormittagsluft und die wärmenden Strahlen auf. Wie es wohl war am Strand, statt in der Stadt zu wohnen und mit den Rufen der Möwen und dem Rauschen der Wellen wachzuwerden? Deirdre musste zugeben, dass sie in dieser Hinsicht ein bisschen neidisch auf jene Apartments am anderen Ende von Isola war. Während sie so dastand und das Kribbeln der Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht genoss, fiel es ihr plötzlich ein. Die SMS! Mit einem hörbaren Ausatmen und einem begleitenden kleinen Hüpfer sprintete sie in den Küchenbereich und begann in den Schubladen zu wühlen. Hoffentlich war Amélie noch nicht aufgestanden oder sogar schon im Wohnheim! Deirdre hatte für diesen furchtbaren Fall zwar einen Plan B, doch eigentlich wollte Dee ihre Nachbarin in deren eigenen vier Wänden überraschen und nicht während der Pflicht. Konzentriert befüllte sie die Kaffeemaschine, legte den Schalter um und stellte zwei Becher sowie Milch und Zucker bereit. Dann hieß es abzuwarten und Deirdre schwor auf alles, was ihr lieb und teuer war … so lange wie heute hatte ihre Kaffeemaschine sie noch nie warten lassen. Auch wenn die Erzieherin am liebsten den Füllstand der Kanne fixiert hätte, besann sie sich eines Besseren und nutzte die qualvollen Minuten, um ihre morgendliche Routine im Badezimmer zu absolvieren. Lediglich das Make-Up ließ sie heute weg. Schließlich war es ein freier Tag, der auch noch als drückend heiß abgekündigt worden war. Die Schminke wäre ihr sowieso wieder vom Gesicht gelaufen. Wieder in der Küche angekommen, befüllte sie die Becher — ihrer war einfarbig gelb, Amélies weiß mit kleinen bunten Blümchen drauf — und fügte jeweils Milch und Zucker hinzu. Irgendwie war sie froh, dass die Ärztin ihren Kaffee ebenfalls süß und hell trank. Leute, die ihn schwarz tranken, waren für Deirdre eine Art für sich. Alles, was sie bei schwarzem Kaffee schmeckte, war eine leichte Bitterkeit, die sich hartnäckig den ganzen Tag über auf ihrer Zunge hielt. Nachdem alles präpariert war, schrieb sie noch eine kurze Notiz („Damit du auf der Arbeit nicht einschläfst!“), die sie mit Tesafilm an den Becher klebte und mit einem lächelnden Smiley versah. Hastig trank sie einen Schluck von ihrem eigenen Kaffee und begab sich daraufhin mit Amélies Becher auf den Balkon, wo sie ihn sicher auf der Trennmauer platzierte. Noch dampfte der Kaffee, trotzdem durfte sie keine Zeit verlieren. Sie schrieb Amélie schnell eine SMS und hoffte einfach, dass die Ärztin nicht bereits im Wohnheim war oder noch schlief. Das würde ihren kleinen, albernen Plan ruinieren. Für einen kurzen Moment kamen Zweifel in Deirdre auf. Machte sie sich damit zum Narren? Sie könnte auch einfach vorne klingeln, wie ein normaler Nachbar. Kopfschüttelnd stieß sie einen leisen, melodischen Pfiff aus, trat ein paar Schritte zur Seite und wartete. Wenn Amélie sie deswegen für merkwürdig hielt, stand ihre Freundschaft sowieso unter keinem guten Stern. Schmunzelnd stellte Deirdre mit Zufriedenheit fest, dass wenige Sekunden später ein kleiner, gelber Schmetterling auf dem Henkel des Bechers landete und genüsslich in der Sonne die Flügel ausstreckte. Er hatte zwar nicht dieselbe Farbe wie Deirdres Flügel, aber das wäre wohl auch zu viel verlangt. „Du bleibst hier bis Amy rauskommt. Und keinen Millimeter näher an den Kaffee“, flüsterte die Rosahaarige kichernd und schlüpfte wieder in ihre Wohnung. Sie schloss die Balkontür hinter sich und ließ sich mit ihrem Kaffee aufs Sofa fallen. Gespannt starrte sie noch für eine Weile auf ihr Handy, doch ehe sie sich versah, schlief sie mit dem Gerät auf dem Schoß wieder ein.
Verflixt, war sie wirklich eingeschlafen? Das passierte ihr doch sonst nie. Etwas durch den Wind, wie man nach einem unfreiwilligen Nickerchen eben so war, rieb Deirdre sich die Augen und griff nach ihrem Kaffee … nur um festzustellen, dass dieser nicht nur lauwarm, sondern eiskalt war. Wie lange hatte sie geschlafen? Seufzend warf sie einen Blick auf das Handy in ihrem Schoß. Dabei checkte sie zwar kurz die Uhrzeit — kurz vor zwölf — bündelte ihre Aufmerksamkeit aber schnell auf die eingegangene Nachricht von Amélie. Das Gerät mit beiden Händen umfassend las sie die SMS und grinste wie blöd vor sich hin. Wann hatte Dee sich zuletzt so sehr über eine Nachricht gefreut, dass sie sogar ein kleines Kribbeln im Bauch verspürte? Rastlos schwebten ihre Daumen über dem Display … sollte sie antworten? Oder wirkte sie dann zu klammernd? Vielleicht sollte sie Amélie später einfach einen Besuch abstatten. Dann wiederum wirkte das erst recht zu verzweifelt. Nach langem hin und her und einigen geschriebenen und verworfenen Nachrichten, legte sie das Handy beiseite. Wieso benahm sie sich plötzlich wie ein hilfloser Teenager, wenn ihr solche Situationen normalerweise überhaupt keine Probleme bereiteten? Mit einem flauen Gefühl im Bauch, das Deirdre nicht ganz zuordnen konnte, kippte sie den kalten Kaffee in den Abfluss und wägte ab, was sie mit diesem angefangenen Tag anstellen sollte. Vielleicht wäre es keine schlechte Idee mal wieder etwas zu essen und Brunch klang eigentlich ganz einladend. Ihre letzte Mahlzeit lag ebenfalls weiß Gott wie lange zurück, sodass sie kurzerhand eine SMS an Jack tippte und sich auf den Weg zur kleinen Bäckerei machte, ohne auf die Antwort zu warten. Frühstücken würde sie ohnehin, ob er nun dazu stieß oder nicht.