Inmitten des Dickichts steht doch tatsächlich eine alte, kleine Holzhütte. Unbewohnt. Die Holzbretter der Hütte sehen schon ziemlich vermodert aus und die Hütte selbst wirkt auch nicht gerade einladend. Strom und Toilette sind hier ein Fremdwort, ein paar Meter Richtung Wald befindet sich jedoch ein kleines Plumsklo. Wer hier wohl einst gelebt hat?
Nachdem ich den ganzen Tag ziellos durch die Gegend lief hatte ich es mal wieder geschafft mich zu verlaufen. Schon peinlich. Ich lebe jetzt schon seit ungefähr einem halben Jahr hier und verlaufe mich immer noch. Als ich mich dann im Bambuswald wiederfand wusste ich endlich mal wieder wo ich war. Und da ich schon mal in der Nähe war beschloss ich zu diesem alten Häuschen gehen und etwas trainieren. Schon von weitem konnte ich sehen das ich nicht alleine war. Da hockte jemand mit blonden Haaren im Gras. Als ich dann auf der Lichtung ankam erkannte ich wer das war. "Guten Abend Sensei Silvia." begrüßte ich die hübsche blonde Dame. "Was machen sie um diese Uhrzeit so allein hier draußen?" fragte ich neugierig. "Oder sind sie gar nicht alleine und haben hier ein Date?" fügte ich noch scherzhaft hinzu.
Ich war immer noch dabei mich zu erholen. Das wieder verschließen meiner Kräfte hatte dann doch etwas mehr Kraft in Anspruch genommen als ich dachte. Aufstehen konnte ich trotzdem noch nicht, der Schmerz im Brustbereich hielt mich am Boden. Weswegen ich vorerst im Gras sitzen blieb. Ich atmete etwas stockend als ich jemanden zu mir sprechen hörte. Langsam drehte ich den Kopf in die Richtung aus der ich die Stimme vermutete. Eine Schülerin? Oder wer war das? Sie sprach mich mit Sensei an, also war es wohl eine Schülerin. Ich lächelte ein bisschen. Es waren auch immer noch die ungünstigsten Situationen an denen Schüler auftauchten! Aber gut. Nichts womit ich nicht zurechtkommen würde. "Das gleiche könnte ich sie Fragen Miss Usagi.", gab ich in einem selbstbewussten Ton von mir um mich so wie immer darzustellen. Was mir angesichts des ziehenden Schmerzes in meiner Brust nicht gerade leicht fiel. Doch konnte ich nicht leugnen das mich ihre nächste Frage ziemlich kalt erwischte, im positiven Sinne. Ich fand es ziemlich amüsant das gefragt zu werden. "Ich? Ein Date?", fragte ich lachend und sah sie an. "Nein, ich war hier um ein wenig zu trainieren. Lehrer müssen auch in Form bleiben, wissen Sie?". Nun schaffte ich es mich aufzurichten. Ich musste mich zwar an meinem Schwert abstützen, ohne hätte ich es jedoch unmöglich geschafft. Erleichtert schnaufte ich durch. "Magie und Kampf Training. Um das ganze präziser Auszudrücken." und steckte mein Schwert wieder zurück. Ich glaube ein großer Teil der Schüler kannte mich sowieso nur als Lehrerin die Magie unterrichtete. Von daher sollte es ein relativ ungewohnter Anblick für sie sein. Aber man wusste ja nie wie die Schüler individuell auf solche Sachten achteten. Falls es sie überhaupt interessierte, "Nun? Was führt Sie hierher?", hackte ich nach und versuchte ein weiteres Mal den Schmerz in meiner Brust zu unterdrücken. Warum wehrte sich mein eigener Körper so gegen mich? Hatte ich es etwas übertrieben? Ich hoffte nicht das es so war und betete das in den nächsten 5 Minuten alles vorbei war.
Das ich mit 'Miss Usagi' angesprochen wurde war mal etwas neues. Bunny, Häschen, Hasen-Mädchen, Eva-chan. Das waren eigentlich so die Namen die ich gewohnt war. Aber Miss Usagi? Selbst Monster, Tochter des Teufels oder Teufel hatte ich schon öfter gehört. Jedenfalls schien es Fräulein Silvia recht amüsant zu finden das ich vermutete sie hätte hier ein Date. Sie erklärte mir das sie hier trainiert hatte und vergenauerte ihre Aussage mit 'Magie und Kampf Training'. Anschließend fragte sie mich was mich hierher verschlagen hatte. "Nun zunächst möchte ich sie bitten mich nicht zu siezen. Auch wenn ich wahrscheinlich mehr als zehn mal so alt bin wie sie. Ich mag es einfach nicht mit Sie angesprochen zu werden. Aber um nun ihre Frage zu beantworten. Meine beste Freundin Kitsune hat heute die Insel verlassen und ich hab sie verabschiedet." begann ich meine Erklärung. "Danach bin ich einfach nur zeillos in der Stadt rumgelaufen, weil ich nicht wusste was ich jetzt tun sollte. Dabei hab ich mich dann verlaufen und erst hier in der Nähe wieder gemerkt wo ich bin. Und jetzt bin ich aus dem selben Grund hier wie sie." erklärte ich weiter und lächelte Silvia an. Allerdings wich das Lächeln schnell einem eher betrübten Gesichtsausdruck. "Allerdings bin ich mir nicht so sicher ob ich jetzt wirklich noch lust dazu habe. Ich vermisse Kitsune." murmelte ich etwas leise und schaute in den Himmel. "Wer hätte gedacht das ich mich mal in einen Engel verlieben würde." dachte ich versehentlich laut und ließ mich ins Gras fallen.
Etwas verwundert schaute ich die Vampirin an als sie mir gleich einmal sagte, dass ich sie nicht siezen sollte. Das hörte man selten. Aber es war verständlich und ich nahm es so hin. Das mit dem Alter dürfte zwar Stimmen, von der Hierarchie her, welche ich mir vor Augen führte war ich trotzdem noch über ihr, zumindest in der Schule. Privat war das schließlich alles anders, aber Schule und sein eigenes Leben strickt auseinander zu halten ging leider nicht so wie ich es mir vorgestellt hatte. Was diese Situation wieder einmal glanzvoll unter Beweis stellte. "Nun gut. Wenn das dein Wunsch ist.", sagte ich und hörte ihrer Erklärung weiter zu. Sie hatte also eine Freundin verabschiedet und war anschließend hier gelandet. Wie sie selbst zugab wollte sie wohl das gleiche machen wie ich. Ein Magie und Kampf Training. Kurz dachte ich über ihr gesagtes nach. Kitsune? War das nicht dieser abermals kalte Engel gewesen welche ich immer im Unterricht hatte. Nicht gerade positive Sachen schossen mir in den Kopf als ich so über sie nachdachte. Allein die Tatsache das sei jemand verabschiedete kam mir schon irgendwie wie ein Wunder vor und das sich Evangeline auch noch in den Engel verliebt hatte verwirrte mich dann noch mehr. Langsam ging ich ein paar Schritte auf den Vampir zu der sich vor mir ins Gras fallen gelassen hatte. "Wundert mich das sie überhaupt jemanden kannte.", sagte ich und schaute ebenfalls in den Himmel. Auch wenn das vielleicht etwas beleidigend klang. So war es vielmehr eine Feststellung. "Ich hab sie nie verstanden.", gab ich ganz ehrlich zu, "Sie war immer kalt und herzlos in der Gegenwart anderer soweit ich es mitbekommen habe. Wie man eine solche Person lieben kann ist mir fremd. Aber vielleicht weiß ich nicht genug darüber um das zu beurteilen.". Nun schaute ich zu Evangeline die vor mir im Gras lag. "Das einzige wobei ich sie lächeln sehen hab ist als andere Schmerzen hatten. Bist du dir sicher, dass das die Liebe zweiseitig war?". Was tat ich hier eigentlich gerade? Ich hatte ja selbst kaum Ahnung von Beziehungen. Warum wollte ich hier jetzt den Berater spielen? Meine Worte waren nicht mal wirklich unterstützend gewesen. Sie waren Objektiv und das wusste ich. Ich war eben nur ein Lehrer und dabei auch immer ziemlich Leistungsorientiert. Eve war die Gefühlvolle bei uns im Lehrerkollegium, aber auch sie kam nicht an Kitsune heran. Keiner von uns tat das. Das Mädchen blieb bis zum Ende ein Mysterium. Und so ging sie anscheinend auch, als Mysterium. "Aber Kopf hoch. Du solltest das Sprichwort ja bereits kennen. Man sieht sich immer zweimal im Leben. Also warum nicht auch in diesem Falle?". Nun musste ich wieder die Zähne zusammenbeißen. Gott! Warum will dieser Schmerz denn nicht langsam nachlassen?
Fräulein Silvia meinte das es sie wunderte das Kitsune überhaupt jemanden kannte. Das wunderte mich ehrlich gesagt etwas. War sie nur mir gegenüber so offen? "Naja, wenn man's genau nimmt hab ich ihr anfangs unsere Bekanntschaft aufgezwungen. Ich hab sie getroffen als sie hier ankam und hab ihr geholfen ihr Zimmer zu finden. Und nach dem Unterricht hab ich ihr das wichtigste auf der Insel gezeigt und war etwas mit ihr shoppen." erklärte ich lächelnd. Als Fräulein Silvia dann meinte das sie Kitsune nur lächelnd gesehen habe wenn ander Schmerzen hatten fiel mir auf das sie auch gelächelt hatte als wir mal zusammen trainiert hatten. Allerdings hatte sie da auch gelächelt als ich sie etwas verletzt hatte. Das verwirrte mich jetzt gerade etwas. War sie jetzt sadistisch oder masochistisch veranlagt? Oder gefiel ihr sogar beides? Oder hatte sie einfach nur Spaß am Kämpfen. Ich wusste es ehrlich gesagt nicht so ganz. Jedenfalls fragte mich Fräulein Silvia auch ob Kitsune meine Liebe überhaupt erwiderte. "Nein. Ich glaube nicht das sie dieselben Gefühle hatte wie ich. Ich hab ihr auch nie gesagt was ich für sie empfinde." erklärte ich. Ich setzte mich auf während ich weiter in den Himmel schaute und mich fragte ob Kitsune vielleicht auch gerade in den Himmel schaute und an mich dachte. Bis ich mit den Worten 'Aber Kopf hoch. Du solltest das Sprichwort ja bereits kennen. Man sieht sich immer zweimal im Leben. Also warum nicht auch in diesem Falle?' aus meinen Gedanken gerissen wurde. Sie hatte Recht. ich würde Kitsune wiedersehen. Immerhin waren wir beide unsterbliche Wesen. Irgendwann werden wir uns wieder über den Weg laufen. Ich stand wieder auf und schaute Fräulein Silvia lächelnd an. "Danke Sensei. Es hat wirklich gut getan mit ihnen darüber zu reden." bedankte ich mich fröhlich. "Auch wenn es mir ein bisschen so vorkommt als hätten sie in Sachen Liebe noch nicht so viel Erfahrung."
Verwundert schaut ich wieder in Richtung der Vampirin als diese mir erzählte, was sie angeblich alles mit der besagten Schülerin, um die sich dieses Gespräch mittlerweile drehte, gemacht bzw. unternommen hatte. Es zeigte mir, das der eiskalte, maschinelle Engel welchen ich die ganze Zeit vor mir hatte durchaus sozialen Umgang beherrschte. Und das nicht im negativen Sinne wie mir nun auch erläutert wurde. Ich war überrascht, das gab ich ganz ehrlich zu. "Siehst du. Wir Lehrer sehen auch nur eine Seite des Schülers.", sagte ich abschließend zu Evangelines Erläuterung. Man konnte ihr deutlich ansehen das sie Nachdenklich war. So hatte ich den Vampir noch nie gesehen. Anscheinend traf sie das wirklich etwas hart. Auch ihr Kommentar, das sie nicht glaubte der Engel hätte ihre Gefühle erwidert, bestätigte mich in der Annahme. Irgendwie tat sie mir leid. Schien eine ziemlich traurige Angelegenheit gewesen zu sein. Doch plötzlich geschah etwas in ihrem Gesicht. Sie lächelte und stand auf einmal fröhlich auf und somit vor mir. Ich schaute etwas verwirrt in diesem Moment. Hatte mein vorhergegangener Kommentar mit dem Sprichwort wirklich einen so großen Effekt gehabt? Unglaublich! Es war schön zu sehen das es der Vampir durch diese Worte geschafft hatte wieder einigermaßen auf die Beine zu kommen. "Freut mich das ich dir helfen konnte.". Nun erwiderte ich ihr Lächeln. Etwas das ich bei Gott nicht oft tat. Ihr Kommentar danach ließ mich jedoch gleich wieder von meinem Lächeln weichen. Er traf hart. Hart und unvorbereitet traf der Kommentar des Vampirs, der gerade behauptete das ich keine Erfahrung in Sachen Liebe hatte. Konnte sie meine Gedanken lesen? Hatte ich etwas laut gesagt? Ich glaubte nicht. Das änderte aber bei Gott nichts daran das sie Recht hatte. "Das stimmt." , entgegnete ich etwas wehmütig mit einem Seufzer. "Ich weiß nicht viel über die Liebe die du meinst. Dafür gleiche ich das mit einer Liebe aus die dir wohl noch nicht viel sagen wird. Mütterliche-Liebe.". Nun weichte sich mein Blick etwas auf, denn ich dachte an Levi und die ganzen Jahre. "Sie ist komplizierter als eine bloße Beziehung. Unabhängig davon was die andere Person dir antut oder eventuell anstellt was nicht so günstig ist. Sie weicht nie. Ich würde deswegen sagen wir sind uns auf dem Gebiet definitiv ebenbürtig.". Nun lachte ich. Hoffentlich kam jetzt nicht irgendeine blöde Aussage wie: "Ich wusste gar nicht das sie Mutter sind.". Natürlich war ich das nicht. Ich war so etwas wie eine Adoptivmutter. Das machte in meinen Augen aber keinen Unterschied.
Ich hatte also Recht. Fräulein Silvia kannte sich mit Liebe nicht so gut aus. Zumindest teilweise. Denn sie erklärte mir das sie sich zumindest mit mütterlicher Liebe auskannt. Mütterliche Liebe. Bei diesen Worten musste ich irgendwie an meine Zukunft denken. Würde ich diese Art von Liebe auch irgendwann kennen lernen? Und wenn ja, wie fühlt sich das an? Ich hätte gerne noch ein wenig geplaudert doch so langsam musste ich wieder ins Waisenhaus zurück. "Ich würde zwar gerne noch etwas mit ihnen plaudern, aber ich muss jetzt leider gehen. Es ist schon spät und ich sollte ins Bett." erklärte ich Fräulein Silvia. "Es hat mich gefreut mich mit ihnen zu unterhalten. Ich würde mich freuen wenn wir unser Gespräch später fortsetzen." fügte ich noch lächelnd hinzu und lief ein Stück auf sie zu. "Sie sind echt süß. Ich mag sie Sensei." Mit diesen Worten gab ich ihr ein Küsschen auf die Wange. Und noch ehe sie irgendetwas dazu sagenkonnte hob ich ab und flog zum Waisenhaus, beziehungsweise in mein Zimmer zurück.
Früh hatte sie das Waisenhaus verlassen und sich auf den Weg in den Speisesaal gemacht. Nur, um sich dort in schneller Manier eine kleine Stärkung zu holen. Sie hatte sich angewöhnt auf einer Mission so wenig wie möglich zu essen, um die Versorgung ausreichend und die Vorräte oben zu halten. Auf den ersten Blick eine eher irrsinnige Sache, aber bei einem Werwolfsangriff, welcher für Nahrungsknappheit sorgen könnte, eine sehr hilfreiche Fertigkeit. Auch, wenn ihre Mission in diesem Falle nur ein Training war. Sie hatte ja bereits am gestrigen Tage entschieden, dass sie sich wieder einüben musste. Ganz besonders mit den neuen Rahmenbedingungen, welche ihre Arme betreffen. Es war also nicht verwunderlich, dass die Blondine sich direkt nach dem Essen auf ihr Zimmer bewegte, um sich für ihren Plan fertig zu machen. Innerhalb weniger Handgriffe hatte sie den langen Koffer unter ihrem Bett hervorgeholt, welcher die Waffe beinhaltete, mit dessen Umgang bewandert zu sein essentiell für die Engelin war. Kurz fand dieser auf ihrem Bett Platz, dann öffnete sie die beiden Verschlüsse um an den Inhalt zu gelangen. Dort lag sie, ihre M1903 Springfield. Gefunden beim alten Flugzeugwrack und von ihr Mühevoll wieder instandgesetzt und weiterverwendet. Zwei Werwolfsangriffe lagen bereits hinter dem Gewehr, vermutlich wohl auch nicht die letzten zwei. Langsam hob sie das besagte Objekt mit ihren Händen heraus, betrachtete es kurz, überprüfte es mit einigen strengen Blicken. Vom Schaft bis zum Lauf schien alles in Ordnung zu sein. Eine leichte Krümmung bildete sich auf ihren Mundwinkeln, dann legte sie das Gewehr wieder zurück, schloss den Koffer. Kaum war das erledigt, verließ sie mit dem Koffer das Zimmer und machte sich auf in die Wildnis. Der Marsch würde ein bisschen Dauern, aber auch das war Teil ihres Trainings.
Schon nach der Ankunft im Wald verringerte sich automatisch das Tempo der jungen Frau. Sie schritt langsamer voran, beobachtete die Umgebung zwischen dem Bambus hindurch und hatte auch hier eine Vorliebe für die Details des Waldes. Immerhin war Vivian eine Naturliebhaberin. Dennoch trieb sie das intern Gesetzte Ziel weiter in den Wald hinein. Zielstrebig bog die Engelin innerhalb der Waldpfade so ab, dass sie sich schon bald an der alten Waldhütte angekommen war. Es war ihr bevorzugter Ort um zu trainieren, da sich in der Nähe eine Freifläche befand, welche man gut für Schießübungen benutzen konnte. Würde man die Bäume Absuchen, so ließe sich bestimmt das ein oder andere Einschussloch dort finden. Auf der Veranda des alten Hauses, legte Vivian nun ihren Koffer ab, öffnete ihn und nahm das Gewehr heraus. Sie probierte ein paar Mal es zu halten und hielt ein paar Mal vor. Es war…ungewohnt. Sie würde sich wirklich erst wieder daran gewöhnen müssen. Weswegen sie auch keine Zeit verlieren wollte. Etwas vor dem Haus platzierte sich die junge Frau und visierte einen Ast am Ende der Freifläche an. Eine Zielscheibe brauchte sie nicht, immerhin gab es im Ernstfall ebenfalls keine auf den Feinden. Man musste schon selbst den Fokus aufrecht erhalten. Ein paar Mal visierte sie durch Kimme und Korn an, dann setzte sie wieder ab und wiederholte die Prozedur. Ein persönlicher Test, wie still sie das Gewehr halten konnte. Eine der wenigen Sachen, die sich mitunter sogar verbessert hatten. Nur ein paar kleine Rutscher ließen sich feststellen. Fehlte nur noch der richtige Test. Mit einem aufleuchten ihrer Hand, materialisierte sich eine Patrone in der Handfläche, welche sie auch umgehend in die Kammer des Gewehrs lud. Magisch, das sollte jedem klar sein. In diesem Falle eine Art Platzpatrone. Sicherheit ging vor, sie wollte niemanden verletzen. Sie nahm die Waffe richtig auf, zielte, stoppte den Atem und…Schuss. Die Schulter der Blondine federte den Rückstoß, während sie selbst keinen Zentimeter zurückwich. Ein knall eilte durch den Wald. Vereinzelt flogen Vögel wie wild aus den Baumwipfeln heraus, während ihre schnelle Repetierbewegung eine Hülse auswarf, die schon in der Luft mit seiner Zersetzung begann und zu goldenem Staub zerfiel. Vivian war zu einem Teil zufrieden, als sie sich das Ergebnis anschaute. Sie hatte den Ast getroffen, jedoch nicht unbedingt so wie sie wollte. Das hieß weiteres üben…und das tat sie auch. Sollte man sich in der Nähe aufhalten, man würde es sicherlich hören.
Der bleierne Himmel über seinem Kopf war wahrlich kein angenehmer Willkommensgrüß gewesen. Doch trotzdem hatte sich Mathéo dazu entschlossen, einen Spaziergang zu unternehmen, während die Möbelpacker sein Haus leerräumten. Ausgiebig hatte er ihnen den Plan erklärt, wie sie seine neue Bleibe einrichten sollten. Heutzutage gehörte das immerhin zum Standardservice solcher Unternehmen. Man gab ihnen den Schlüssel und sie bauten den einen Haushalt ab, um ihn an anderer Stelle wiederaufzubauen. Es dauerte nur eben seine Zeit. Solange war Mathéo quasi obdachlos. Ein Dach über dem Kopf würde ihm auch fehlen, sollte es wieder anfangen zu tröpfeln. Der graue, wolkenbedeckte Himmel verhieß nichts Gutes. In den zurückliegenden Stunden hatte es bereits mal ein, zwei Tropfen geregnet; alles nichts der Rede wert, aber ignorieren konnte man es auch nicht. Vor dem Bambuswald hatte man noch die dunklen Flecken auf dem Boden sehen können. Mitten im Wald jedoch sorgte das dichte Blattwerk dafür, dass man von dem Wetter nichts mitbekam. Das Grün der Wipfel freute sich sicher über die Feuchtigkeit und saugte sie sofort aus. Für Fußgänger am Boden blieb derweil nichts übrig und so konnte Mathéo auch ohne Regenschirm trocken durch den Wald schreiten.
Außer Vogelzwitschern war nicht viel zu hören. Dafür krochen die Schnecken aus ihren Verstecken, wurden jedoch dabei von den hungrigen Echsen ertappt und verschlungen. Auf den Ästen konnte Mathéo die kleinen Greifvögel sitzen sehen, die still auf ihre Chance warteten. Ein Jäger lauerte hier auf den anderen und niemand war im Grunde sicher. Wenigstens Mathéo musste sich keine Sorgen machen, solange keine menschenfressenden Bären oder … Werwölfe … auftauchten. Letzteres sollte es nicht mehr geben. Aber dasselbe hatte man sich sicher auch vor den zurückliegenden Angriffen gedacht. Ein Wald wie dieser wäre ein hervorragender Rückzugsort. Doch wenn er wirklich gefährlich wäre, hätte man den Schülern verboten, ihn zu betreten. Dem war jedoch nicht so.
Mitten durch den Bambuswald verlief ein Fluss, der an einer Stelle sogar von einem Wasserfall unterbrochen wurde. Zwar kam Mathéo an letzterem nicht vorbei, doch für ein paar Minuten hatte er das Plätschern in der Ferne vernehmen können. Und fast wäre er sogar dorthin abgebogen, doch dann sagte er sich, dass er es auch auf dem Rückweg nachholen konnte. Sein Plan war, ein Mal den Wald zu durchqueren bis zum Massiv auf der Ostflanke und dann wieder zurückzugehen, im Park vorbeizuschauen, ob alles weg war und dann zum neuen Haus zu laufen. Der Tristam hatte sich sogar was zum Knabbern eingepackt, damit er sich beim ersten Etappenziel eine Bank oder einen Baumstamm suchen konnte, um sich auf diesem niederzulassen. Doch als er meinte, so gut wie am Ostrand des Waldes angelangt zu sein, fand er weit und breit keine passende Sitzmöglichkeit. Also ging er weiter, bis er plötzlich einen lauten Knall hörte.
Zugegeben: Allzu laut war der Knall nicht mehr gewesen, da er in weiter Distanz ertönt war; trotzdem hatte Mathéo in klar vernehmen können. Außerdem raschelten die Kronen und allerlei Vögel flogen davon. Mathéo konnte sogar sagen, dass es sich bei dem Knall mit hoher Wahrscheinlichkeit um den Schuss einer Handfeuerwaffe gehandelt haben musste. Jemand mit seiner Vergangenheit und Erfahrung hörte dies sofort heraus; wobei es auch schwer war, auf etwas anderes zu schließen. Nur … wer schoss denn hier im Wald? – fragte sich der Tristam. Ihm war nicht bekannt, dass Jäger ihr Metier im Bambuswald verfolgten. Wäre dem wirklich so, hätte man Spaziergänger warnen müssen. Soweit Mathéo es aus seiner Heimat kannte, gab es da strenge Richtlinien während den Jagdsaisons. Der Dämon folgte dem Ursprung des Knalls und stieß dabei irgendwann auf eine Lichtung. Wo sonst das dichte Blattwerk für dunkle Zustände sorgte, konnte man hier die wenigen Lichtstrahlen auffangen, die es durch die dichten Wolken schafften. Am Rande erspähte Mathéo eine Holzhütte, die ihre besten Jahre bereits hinter sich hatte. Die Wände waren voll Moder, Moos zog sich über die Veranda und alles, was von einem Geländer noch übrig war. Dabei fiel ihm sofort ein Koffer auf, der dort lag und dies definitiv erst seit kurzem tat. Der gehörte nicht in diese Welt. Selbiges konnte der Tristam aber auch über das Mädchen sagen, welches im Herzen der Lichtung stand und eine lange Schusswaffe bei sich trug. Das musste der Quell des Knalls gewesen sein. Schießübungen? Mathéo hatte nicht damit gerechnet, dass es noch jemand anderen neben ihm selbst gab, der mit Schusswaffen auf Isola hantierte und sogar mit ihnen übte. Zumindest hatte er bisher niemanden getroffen. Dieses blonde Mädchen hier war die erste.
Mathéo unterließ es, auf sich aufmerksam zu machen. Stattdessen spazierte er am Rande der Lichtung entlang und hinüber zur Hütte. Derweil ertönte ein zweiter Schuss und Mathéo sah, wie in der Ferne Blätter im Geäst aufgewirbelt wurden. Vielleicht waren sogar ein paar Späne dabei. Auf alle Fälle hatte der Schuss auch die letzten Piepmätze aufgescheucht. Bald würden keiner mehr weit und breit zu finden sein. Tontaubenschießen konnte sich die Blondine also abschminken. Auf der Veranda suchte sich der Dämon ein freies Plätzen. Dort, wo sich möglichst wenig Grünzeug gesammelt hatte und von wo aus er die Beine ins Gras strecken konnte, ließ er sich nieder. Nun hatte er auch seinen Fleck gefunden, um sich seinem Gebäckstück zu widmen: ein Melonenbrot. Angeblich war das voll der Renner hier in der asiatischen Region. Für einen Europäer sah es erst mal nur lustig aus, ehe man erkannte, dass es sich dabei um mehr als nur einen Witz handelte. Ein Mal hatte Mathéo bereits eins gegessen. Dieses hier würde das zweite sein. Nebenbei beobachtete er die Schützin und analysierte instinktiv ihre Haltung und ihr Schussverhalten. An sich machte sie einen stabilen Eindruck, doch hier und da war noch Raum für Verbesserungen. Was für eine Waffe hat sie da eigentlich?, fragte er sich, als er mal genauer hinschauen wollte. Sah für ihn nach einem älteren Modell aus, vielleicht ein Überbleibsel aus Weltkriegszeiten? Hm …. Oh! Dann erkannte er plötzlich, was es war: eine Springfield. Ein Klassiker.
Ein weiterer Schuss löste sich aus dem Gewehr von Vivian, als sie sich dazu entschlossen hatte noch einmal auf das gleiche Ziel zu schießen. Wieder einmal flüchteten ein paar Vögel hinauf in den Himmel, dann kehrte eine erneute Stille in der Umgebung ein. Noch hatte sie nicht bemerkt, wie sich jemand in ihrer Umgebung näherte. Immerhin war sie gerade voll und ganz auf das Schießen fokussiert gewesen. Doch etwas störte sie. Trotz der so anfänglich gut gelungenen Haltung und den Abläufen danach, die sie eigentlich wie ihre Westentasche beherrschen sollte, war alles etwas ruckartig. Man könnte meinen, dass sie die Feinabstimmungen erst wieder erlernen musste. Nicht verwunderlich im Anbetracht der Umstände. Erneut legte die Blondine das Gewehr an, ließ es aber sofort wieder sinken, als die Bewegungen an sich erneut zu kantig wirkten. Sie erinnerte sich an die Worte vor ihrer Entlassung, wo man ihr schon andeutete, dass dies etwas dauern würde. Oder, um es in den Worten des Arztes zu sagen: „Die Rehabilitierung wird seine Zeit in Anspruch nehmen.“. Ihr eigener Sturkopf hingegen, sagte ihr genau das Gegenteil. Um ihrem selbst ernannten Ziel wieder gut nachkommen zu können, musste sie wieder auf den alten Standard kommen! Allerdings kollidierten auch hier wieder die Ziele innerhalb der jungen Frau. Ihr Blick wanderte in den Himmel, dann wieder zurück auf die Grenze zwischen Lichtung und Wald und schien ein paar Sekunden etwas teilnahmslos dazustehen. Letzten Endes aber richteten sich ihre Blicke erneut auf eine ihrer Hände, die sie symbolisch noch einmal bewegte. Mh, vielleicht sollten es ein paar Trockenübungen sein, bevor sie sich wieder an der Praxis versuchte.
Der Präsenz einer weiteren Person überraschte die Engelin in einem gewissen Aspekt. Was man durchaus an ihrem Abrupten stoppen sehen konnte, als sie sich zum alten Haus herumdrehte. Innerhalb eines kurzen Moments, musterte die Blondine ihren spontanen Gast, welcher dort in Ruhe etwas zu sich zu nehmen schien. Rote Haare, wirkte unscheinbar. Dennoch wusste Vivian gut genug, dass Schüsse nicht so herkömmlich waren, dass sie jeder so ruhig aufnahm, geschwiege denn in deren Nähe sein Essen zu sich nahm. Vielleicht war er aber auch in dem Haus gewesen, als sie sich bereits hier aufgestellt hatte? Alles war möglich, immerhin hatte sie es nicht vorher durchsucht. Eine Fahrlässigkeit, wie sie selbst für sich anmerkte. Nichts desto trotz, bewegte sie sich auf ihn zu, das Gewehr in passiver Haltung angewinkelt, den Lauf nach unten zeigend. „Es tut mir aufrichtig leid, sollte ich Sie mit meinen Übungen gestört haben.“, begann sie in sanftem Ton ihre Begrüßung, bevor sie mit einem kleinen Knicks fortfuhr. Was sicherlich ein wenig merkwürdig aussah. Denn normalerweise machten Leute mit einem Gewehr in der Hand keine höflichen Gesten. Zumindest jetzt konnte sie den jungen Mann aus der Nähe beobachten. Sicherlich hatte sie ihn schon einmal irgendwo gesehen. Die Wahrscheinlichkeit nach 17 Jahren war sehr hoch. Es gab selten Inseleinwohner, welche sie nicht kannte. Auren zu erkennen wäre hier ein richtiger Vorteil…wenn sie das denn überhaupt könnte. „Ich bitte deswegen vielmals um Verzeihung, ich habe das Haus vorher nicht nach anderen Leuten abgesucht. Ich hatte nicht damit gerechnet, hier jemandem vorzufinden.“, erklärte sie sich weiter und versuchte ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen zu bringen. Das es vielmehr nur für eine leichte Krümmung der Mundwinkel sorgte, war ihr selbst zu verschulden. Ihre Waffe allerdings war fest von ihren beiden, mit Handschuhen bedeckten, Händen umschlossen. Auch war auffällig, wie markant aufmerksam die Engelin geworden war. Die Überraschung hatte doch in gewisser Weise ein paar Instinkte geweckt. Genauso wie die Situation mit Damian, welchen sie aus Reflex eine verpasst und somit vom Skateboard geholt hatte. Aber das hielt sie nicht davon ab in höflicher Manier um Entschuldigung zu bitten. Würde der Rothaarige nun wünschen das sie geht, so würde sie es tun.