Sein Lachen war hallte in ihren Ohren wider; je länger es andauerte, desto mehr hatte Velia das Gefühl, eingeengt zu werden. Den Grund dafür kannte sie nicht. Gerade hatte sie sich zusammen gerissen, doch war das jetzt, wo er sie wieder berührte, nicht mehr möglich. Sie hatte ihre Gedanken ausgesprochen, hatte sich für einen kurzen Moment gut gefühlt und jetzt ging es wieder von vorn los. Allerdings reagierte er nicht so, wie Velia es befürchtet hatte. Stattdessen...verabschiedete er sich? Er hatte plötzlich wieder lange Haare, entfernte sich von ihr und...entschuldigte sich? Velia verstand im Augenblick gar nichts mehr, wagte es aber noch nicht, sich zu bewegen. "Hör auf! Lüg mich nicht an. Das alles ist schon schlimm genug, da brauch ich nicht auch noch falsche Entschuldigungen." flüsterte sie, noch immer an die Wand gedrückt. Das passte doch alles nicht! Auf der einen Seite bedrängte er sie, bedrohte sie und jagte ihr Angst ein, auf der anderen Seite entschuldigte er sich, wich vor ihr zurück und tat so, als ob er das alles nicht gewollt hatte. Beinahe so, als wäre er nicht er selbst; als gäbe es zwei Menschen in einem einzigen Körper - aber das war doch nicht möglich! Zumindest fiel ihr keine Möglichkeit ein, wie es möglich sein könnte. Und trotzdem war sie froh darüber, ein wenig ausatmen zu können, ohne seinen Atem gleich auf ihrer Haut zu spüren. Sie entspannte sich ein ganz klein wenig, einfach weil er Abstand zwischen die beiden gebracht hatte - warum auch immer. Vielleicht war das alles Teil seines Planes, um sie zu quälen.

Sie verstand ihn kaum, als er sprach, doch war sie von dem, was sie hörte, verwirrt. Gleichzeitig ging es ihr langsam auf die Nerven, dass er nicht einmal mehr einen vernünftigen Satz zu Stande brachte, als hätten sie die Rollen getauscht. "J-" Sie wollte einen Satz anfangen, doch plötzlich veränderte ihr Gegenüber seinen Charakter schon wieder, schritt wieder viel zu nah zu ihr und zwang sie erneut, ihm in die Augen zu schauen, wodurch ihr Herz wieder schneller schlug - es war doch immer das Selbe. Kaum hatte sie sich etwas beruhigt, ging es wieder weiter. Allerdings war es so schnell vorbei, wie es passiert war - auch das machte Velia Angst. Erst so, dann anders; dieses ständige Wechseln machte sie noch verrückt. Aber es ließ sie auch nachdenken. Den Blick stuft geradeaus gerichtet, hörte sie seine Bitte zu ihren Füßen. "Ich..." Ihr fiel es schwer, ihm zu glauben, aber machte es überhaupt einen Unterschied? "Gut..ich glaube..es. Aber...das macht auch keinen Unterschied." sagte sie leise - trotzdem war er er und niemand anders, ganz gleich, ob es seine andere Persönlichkeit war oder nicht. Er hatte sie zu etwas getrieben, was sie nicht wollte, und das war nicht mehr rückgängig zu machen. Was sollte sie da schon noch groß sagen? Nur fand sie, dass er sich gerade ziemlich albern aufführte - beinahe wie ein Kind. Oder eine Heulsuse, wie er selbst sich genannt hatte - oder wer auch immer das nun gewesen war. Das verwirrte sie einfach alles! Aber sie wollte es auch nicht verstehen.

Wie mitfühlend er doch war! Natürlich konnte man an Vergangenem nichts mehr ändern, aber das hieß nicht, dass man es einfach abharken und weitermachen konnte, als wäre nichts passiert. Velia konnte das erst recht nicht. Wenn irgendjemand dieses Geheimnis erfuhr, konnte sie die Schule gleich verlassen; ihre Heimat würde das dann hier ganz sicher nicht mehr werden. Er erhob sich, hatte sich scheinbar beruhigt, was immerhin besser war, als einen heulenden Lehrer direkt vor den Füßen sitzen zu haben. Wenigstens einer, dem es besser ging. Velia hatte sich seit ihrem Besuch bei ihm nicht wirklich erholt. Sie spannte sich an, als e sie wieder berührte, konnte sie seine Berührung doch noch immer nicht haben - was eigentlich auch kein Wunder war. Aber scheinbar schien er das nicht zu kapieren. "Und trotzdem ist es passiert. Wenn du...es wirklich nicht gewollt hättest, dann...wäre es nicht passiert. Ganz egal ob du zwei Ichs hast." sagte sie leise, vorsichtig, aus Angst, die andere Persönlichkeit würde wieder zum Vorschein kommen. Sie lockerte sich wieder, als er sich wieder von ihr entfernte. Dass er es letztlich doch so gelassen nahm, konnte sie nicht verstehen. "Ich kann damit aber nicht leben. Ich wäre lieber tot, als so weiter zu leben!" raunte sie ihm zu, wobei ihr erst hinterher bewusst wurde, dass sich das ja ganz leicht einrichten ließ - aber er würde ja wohl wissen, dass sie es ganz so nicht gemeint hatte, oder? Hoffentlich hatte sie dabei nicht wieder erreicht, den anderen...hervorzuholen. Und trotzdem nahm sie ihre Worte nicht zurück. Ein wenig stimmten sie ja sogar. Sie wäre von allen Sorgen befreit...aber sie hätte alles verloren, würde nicht mehr Leben und ihre Ziele verwirklichen können. Sie hasste das was passiert war, und auch ihn hasste sie, aber deshalb sterben? Von einem Augenblick auf den nächsten fing sie doch an zu heulen, nur ganz leise, sodass es vielleicht gerade der Lehrer hören konnte, gleichzeitig rutschte sie die Wand hinab, bis sie auf dem Boden saß, ihre Tasche fest an sich gedrückt, um irgendeinen Halt zu haben. Was würde passieren, wenn jemand es heraus fand? Das war etwas, über das sich Velia bisher keine Gedanken gemacht hatte. Aber sie wusste, dass sie dann wirklich lieber tot wäre, als weiter auf dieser Schule zu leben.

Konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? Vielleicht wäre das auch einfach am Besten; wenn sie niemals wieder auf das Thema angesprochen werden würde. Aber bei ihrem Gegenüber war das wohl unmöglich. Zum einen erinnerte sie allein sein Aussehen daran, was sie nun wohl öfter zu Gesicht bekommen würde, zum anderen war sie nie sicher vor dem anderen, der irgendwo in ihm schlummerte. Sie hörte zwar, wie er ihren Namen sagte, aber sie reagierte nicht. Beide Male nicht. Denn sie wollte nicht antworten. Nur hier weg und nicht wieder kommen. Wieder erstarrte sie, als er sie in die Arme nahm - konnte oder wollte er nicht verstehen, dass sie Angst davor hatte, von ihm berührt zu werden? Oder machte er das etwa mit Absicht. Sie Kniff die Augen zusammen, um sich vorstellen zu können, nicht den Lehrer - dessen Namen sie noch immer nicht mehr im Gedächtnis hatte - sondern irgendjemand anderen neben sich zu haben, bei dem sie sich geborgen fühlte; aber das war nicht möglich. Konnte sie seinen Worten wirklich glauben? Es war alles so...unwirklich. Als würde sie träumen. Vielleicht würde sie ja irgendwann auch einmal aufwachen und lachen - lachen über ihre Naivität und ihre Dummheit, ihre Angst und ihren Hass. Aber das bezweifelte sie stark. "Ich lebe damit, aber nicht gut. Und sobald-" Sie brach ab; war sie eigentlich völlig verrückt? Er würde sie doch hören können! Und dann hätte er sie endgültig in der Gewalt - falls er das nicht ohnehin schon hatte. Ein kurzer Blick huschte rüber zur Manteltasche des Lehrers. Nur einen Griff entfernt könnte ihr Tod liegen. Es war so leicht...aber dann hätte er endgültig gewonnen. "Lass mich los. Bitte." flüsterte sie; etwas anderes fiel ihr einfach nicht mehr ein. Sie hatte noch nie einen Lehrer weinen sehen und fand dies nach wie vorn einfach nur seltsam; aber sie hatte auch vieles andere noch nicht gesehen, was sich jetzt geändert hatte. Als Lehrer konnte sie ihn doch gar nicht mehr ernst nehmen. "In welchen Fächern...?" Sie schaffte es nicht, die Frage zu Ende zu stellen, aber er würde schon wissen, was sie meinte. Sie wischte sich über die Augen, nur vorsichtig, dann kramte sie in ihrer Tasche nach Spiegel und Taschentuch und wischte verschmiertes Make-Up von ihrem Gesicht, um es gleich darauf wieder neu aufzutragen. Niemand durfte sehen, dass sie geweint hatte - immerhin besprachen sie hier ja 'nur ihre Noten', was schon allein deswegen nicht möglich war, weil die kommende Stunde ihre erste sein würde. Aber das musste man ja niemandem aufs Auge drücken.

Froh darüber, wieder mehr Platz zu haben, atmete sie tief aus, dann ein und räumte ihre Sachen wieder in ihre Tasche. Ihre Gedanken schweiften zu den nächsten zwei Stunden, die sie haben würde, und sofort wurde sie noch nervöser. Wie sollte das überhaupt funktionieren? Sie konnte nicht so tun, als wäre nichts gewesen. Aber sie musste. Nur bezweifelte sie, dass sie das schaffen würde. Und dann hörte sie seine Antwort. Sie wäre am liebsten tot umgefallen, aber statt überhaupt irgendetwas zu tun, biss sie nur ihre Zähne zusammen und nickte. Das wurde ja immer besser! Hinterher kam es noch so weit, dass er der Vertrauenslehrer wurde - falls es sowas überhaupt gab auf dieser Schule. Aber irgendwie würde sie das schon schaffen...hoffte sie. Und solange der Lehrer so war wie jetzt, war sie sogar fest davon überzeugt, es zu schaffen. Aber wie sie das mitbekommen hatte, konnte er sich nicht wirklich gut kontrollieren. Also lief sie immer irgendwie Gefahr auf das andere Ich zu treffen. Und dieses Wissen machte sie verrückt. "Du kannst mir nicht helfen. Du - oder wer auch immer - bist schuld daran, aber ich muss damit allein klar kommen. Niemand kann mir dabei helfen." sagte sie leise, hatte noch kurz zu ihm geschaut, fand den Boden nun aber mal wieder viel interessanter. Das ganze war doch verrückt! Sie saß hier mit einem Lehrer, der nicht viel älter aussah als sie selbst und rede mit ihm über etwas, über das man sich mit einem Lehrer nicht unterhalten sollte. Und im Unterricht sollte sie ihn behandeln wie einen richtigen Lehrer, respektvoll und gehorsam? Dass sie nicht lachte. "Ich werde sowieso mit niemandem darüber reden." Was eigentlich auch verständlich war - aber wenn sie sich recht erinnerte, war das eine Frage von ihm gewesen, oder eben nicht von ihm. Aber wahrscheinlich war ihm das auch schon klar gewesen. Velia ertrug nur die Stille nicht, die sich immer wieder ausbreitete. Aber zumindest hatte sie im Augenblick keine Angst mehr vor ihm. Das gab ihr wenigstens die Gelegenheit, in Ruhe über all das nachzudenken und vielleicht einen Weg zu finden, damit umzugehen - letzteres allerdings hatte sie noch nicht geschafft.