Vilo erstarrte peinlich berührt, die Hand noch vor dem Mund. Nach einem Moment löste sie sich aus der lästigen Starre, die sie befallen hatte, und drehte sich in die Richtung des irgendwie hohlen Geräusches und Ausrufes.
Anscheinend hatte ihr Gehör noch nicht gelitten, denn es musste klarerweise ein Mädchen gewesen sein, kleiner als sie, in etwa drei bis viereinhalb Meter Entfernung. Schrank oder Wand? Eher Schrank?
Was jetzt? Denk nach! Aus Vilos Mund rutschte ein schiefhängendes „Ehm“ und sie tastete mit der Hand nach der Kante des kleinen, umlaufenden Tisches, um ein Gefühl von festem Halt zu haben.
„Ehm“, sagte sie nochmal. „Ist ja jemand?“
Eine ziemlich blöde Frage. Als ob Luft gegen Schränke rennt und Schmerzlaute von sich gibt.
Sie kicherte nervös und versuchte, ihr Anspannung zu vertreiben, ihre verkrampften Muskeln zu lockern. Wahrscheinlich stand sie da wie eine Wachsstatue und stierte ins Leere und am Mädchen vorbei, die Hände in einer lächerlichen Schutzpose vor ihrem Körper. Seriös sah anders aus.
„Tschuldigung, aber ich bin ... eh, Föhne kenne ich nicht“ - ganz schlecht. Wenn das so wäre, wieso kannte sie dann deren Namen? - „Zumindest glaube ich, dass, eh, bin die nicht gewöhnt ... ja, ich ... weisst du, wo hier die Duschen sind?“
Noch einmal ärgerte sie sich darüber, wie aufgeschmissen sie ohne ihre Magie war.
„Mir ist son blödes Shampoo in die Augen gelaufen, ich seh kaum was.“
Zur Bekräftigung rieb Vilo sich kräftig die Augen, blinzelte und quetschte ein paar Tränen hervor. Diese kleine Gabe - spontan mit dem Finger Tränen erzeugen zu können, eigentlich ziemlich gruselig - hatte ihr in einer ähnlichen Situation schonmal die Peinlichkeit der Offenbarung erspart.
„War viel zu stark.“

Oh nein... sie dreht sich um! Miyu's Nase pochte weshalb sie ihre Hände schützend um sie legte und dann wurde sie auch noch angesprochen. Sie hatte Angst etwas zu sagen. Was redet sie denn da für sinnloses Zeug? Das war eine echt gute Frage. Sie weiß also nicht was ein Föhn ist und... musste sie ihn dann unbedingt auf den Boden werfen? Doch dann kam der erste sinnvolle Satz. "Tut mir leid aber ich suche die Duschen auch." Es entsprach der Wahrheit. Miyu nahm ihre Hände von der Nase. An ihren Händen war ein wenig Blut. Na toll... Nasenbluten. Wo starrte das Mädchen denn die ganze Zeit hin?
Die arme... das Shampoo muss ganz schön in den Augen brennen. "Dann sollten wir lieber schnell nach den Duschen suchen damit du es auswaschen kannst." Hektisch sah Miyu um sich.
Endlich, da waren die Duschen ja. "Gefunden!" rief sie und lief in Richtung der Duschen. Plötzlich blieb sie stehen. Das Mädchen konnte doch kaum was sehen. Woher sollte sie wissen wo die Duschen sind? "Komm mit"

Sie hatte Lust, sich hinzuknien und ein Glücksgebet auszustossen. Also auch die Duschen.
Ihre Stimme klang ein wenig nasal - eine zarte Stimme ... - und Vilo fragte sich, ob sich das Mädchen eine Verletzung zugezogen hatte. „Alles ok? Ehm, klar, klar, das wäre echt gut. Danke übrigens, kenne mich hier überhaupt nicht aus.“
Fußschritte tapsten über den kühlen Boden und entfernten sich.
Vilo lauschte angestrengt, machte einen Schritt nach vorne, weg von der schützenden Kante des Tisches, und schwebte wieder im schwarzen, undurchdringlichen Raum. Er hatte nicht einmal eine feste Farbe, viel mehr kam es ihr vor, als ob das Mädchen auf einem nebeligen Feld bei Nacht mit unsichtbaren Boden stand. Grässlich. Sie hatte eine Menge verlernt ... na toll.
Als das andere Mädchen sie aufforderte mitzukommen, nickte und lächelte sie etwas gequält, machte zwei, drei weitere, etwas unsichere Schritte nach vorne und wusste nicht, ob sie ihre linke Hand vor die Augen - damit es realistischer wirkte - halten oder es als Tastinstrument benutzen sollte. Sie entschied sich für letzteres und kniff die Augen stark zusammen, die immer noch stark tränten.
„Kein Problem, ich kom - AHHH!“ Es rumpelte, als sie mit der Hüfte schmerzhaft gegen eine Kante stieß, irgendein Möbelstück, vielleicht ein Schrank oder ein Wandeck.
„Alles ok“, winkte sie mit zusammengebissenen Zähnen ab und folgte dem Mädchen mit unsicheren, suchenden Schritten. „Verdammtes Shampoo.“
Irgendwie wäre ein Themawechsel gut, um das Mädchen auf andere Gedanken zu bringen.
„Hey, wie heisst du? Bist ne Schülerin hier, oder?“

Das Mädchen folgte ihr langsam, immer wieder drehte Miyu sich nach ihr um. Plötzlich rumpelte es hinter ihr. Das Mädchen ist gegen eine Wandecke gestoßen. Ist wirklich alles ok? Das Mädchen wirkte von Schmerz gequält, weshalb Miyu sich Sorgen machte.
Das Shampoo schien wirklich stark gewesen zu sein. Sie wollte das Mädchen nicht mehr leiden sehen und nahm sie schüchtern an die Hand und lief weiter in die Richtung der Duschen.
Ich heiße Miyu. Miyu Akira und ja ich bin eine Schülerin hier. Und du? fragte sie vorsichtig und lächte leicht, was eigentlich sinnlos war da das Mädchen sie wohl kaum sehen konnte.
Nach ein paar Metern blieb Miyu stehen. Wir sind da, sagte sie und ließ das Mädchen los.

"Hm, autsch, ja, alles in Ordnung ..." Vilo folgte weiter der Stimme und fand sich nach den ersten Schrecksekunden wieder besser zurück. Eine kleine, zarte Hand ergriff ihre und zog sie behutsam in eine bestimmte Richtung. Vilo musste dankbar lächeln und ließ sich führen. So bestand zumindest nicht die Gefahr auf weitere Kollisionen. "Vilo Spoturi" - sie ließ das R dramatisch rollen, wie es die Sprache verlangte - "und ebenfalls Schülerin. Und neu hier, wie du merkst." Sie meinte, aus der Stimme des Mädchens ein feines Lächeln zu hören, ein akustisches Wellenschlagen, das sie auch ohne ihre Sicht bemerkte. "Wir sind da? Gott sei Dank!" Vilo sprang nach vorne, tastete in der Luft herum wie ein Lotse, fand einen Brausekopf mit zugehörigem Drehhahn und drehte das Teil auf. Klirrend kaltes Wasser ergoss sich über ihren Körper. Sie schrie kurz auf und stellte die Dusche wärmer, bevor sie so tat, als würde sie ihr Gesicht waschen. Nach einem kurzen Moment war ihr Haar triefend nass und ihre Augen "ohne Shampoo". "Danke nochmal", sagte Vilo und sah in Richtung des Mädchens - zumindest in die vermutete, aber mittlerweile hatte sie den Dreh wieder raus und wusste, auf welcher Höhe sich ihr Kopf mit den Augen befand. Der Dampf der heissen Dusche vernebelte ohnehin leicht den Raum zwischen ihnen, da würde so etwas hoffentlich nicht auffallen. "Wow, du bist echt klein. Eehhmmm." Fettnapf. Wer hörte das schon gerne? Mehr wusste sie aber nicht über das Mädchen, deshalb hatte sie unüberlegt gesprochen. "Und du hast tolle Haare. Ohne dich wäre ich ziemlich in der Patsche gewesen."
Für einen Augenblick sah sie weiter in die Richtung des vermuteten Kopfes und hoffte, dass sie einen Blickkontakt hinbekam.
"Was führt dich auf die Insel? Wegen der Famiie als Schülerin hier?"

"Nichts zu danken." Miyu ging zu einem anderen Duschkopf und drehte das Wasser auf. Es war gleich am Anfang schön warm so dass sie es nicht verstellen musste. Das Wasser floss sanft an ihrem Körper herunter. Es war schön angenehm.
"Oh, ähm... ja. In meiner Familie ist niemand wirklich groß gewesen." Ihr Gesicht wurde knallrot. Ihre Größe war ihr peinlich. Ständig hielten andere sie für ein kleines Mädchen und hatten Mitleid mit ihr. "Danke. Du hast auch sehr schöne Haare." Miyu mochte Haare mit 'normaler' Haarfarbe. Sie hasste ihre blau-violette Farbe. "Du musst mir nicht danken, ich hab gern geholfen." Das Mächen sah sie jetzt direkt an.
"Naja... Ich bin im Heim aufgewachsen weil meine Eltern starben und... der Heimleiter hat etwas über mich herausgefunden wovor er Angst hatte weshalb ich hier her geschickt wurde. Ich bin erst gestern hier angekommen. Also bin ich auch ziemlich neu. Und was führt dich hierher?" Miyu wollte nicht weiter über sich selbst reden. Plötzlich merkte sie wie traurig sie gerade aussehen musste weshalb sie schnell versuchte ihre Traurigkeit durch ein Lächeln zu überspielen.

Gut, sie nahm das ganze mit Humor. Sah so aus, als ob sie diesen Spruch nicht zum ersten mal hören würde ... mann, Vilo, Schäm dich. Aber das mit den Haaren hatte ihr gefallen ... anscheinend hatte sie eine ganz normale Haarfarbe, nichts aussergewöhnliches. Nayaka mit roten Haaren ... Vilo kicherte. Das war immer noch schwer vorstellbar. Tomatenrot? Hellrot? Fast Rosa? Oder dunkler?
Als Miyu ... Akaro? Akari? Akira! erzählte, dass ihre Eltern gestorben waren, verstummte Vilos Kichern sofort. Betroffen schwieg sie ein paar Sekunden, während Miyu weiterredete. Ihre Stimme bekam einen versteckten, traurigen Tonfall. Als sie aufhörte, konnte Vilo wetten, dass sie jetzt unsicher und überspielend lächelte.
„Das mit deinen Eltern ... tut mir Leid. Ich ... eh ja, bin auch gestern angekommen. Familiensache. Mein Vater hat mich hierhergeschickt.“ Etwas herausgefunden, das dem Heimleiter Angst gemacht hatte?
„Sorry, wenn ich frage, aber bist du ein Werwolf oder ...“ Gott, wie sollte sie das fragen, ohne verletzend zu klingen? „Oder hast du ein besonderes, furchteinflößendes Äusseres? Deine Stimme klingt so zart, so harmlos ...“.
Das war indirekt zugegeben, dass sie blind war, und es wunderte Vilo, warum sie das gesagt hatte. Plötzlich fühlte sie sich müde und hatte keine Lust, diese Tatsache noch länger zu verstecken.
Zudem beunruhigte sie die Tatsache, vielleicht neben einem magischen Wesen zu stehen, dass sie mit einem Hieb einer Klaue zerreissen konnte. Ohne ihre Karten war Vilo komplett wehrlos.

Miyu erschrak. Ein Werwolf? Ich? Man konnte Vilo die Angst ansehen und auch ihre Stimme klang nervös. "Nein keine Angst. Aber die Menschen fürchten sich vor Dingen die sie einfach nicht kennen. Ich bin ein Engel." Der nächste Satz verwirrte Miyu total. Was meine Stimme klingt zart und harmlos? Kann sie mich denn nicht sehen?
Sie schwieg und dachte nach. Erst sagte sie Miyu hätte schöne Haare und wäre klein... und dann weiß sie nicht mal wie Miyu aussieht? "Sag mal... Kannst du mich überhaupt sehen?" fragte Miyu vorsichtig.
Sie nahm sich etwas Shampoo und wusch sich die Haare. Vor lauter reden sollte das Duschen nicht vergessen werden. Sie schloss die Augen und dachte weiter nach. Irgendwie schon komisch von was Vilo redete.

Sie seufzte leise. Irgendwann musste es ja rauskommen. Immerhin, das Mädchen war ein Engel und kein Werwolf oder ein anderes Geschöpf, das gerne in Kinderalbträumen auftauchte.
"Sorry wegen meiner Frage. Ja, das tun sie."
Und wie. Vilo kannte das.
Was sollte sie jetzt auf die Frage antworten? Ehrlich? Vilo war es wirklich Leid, das länger zu verstecken. Schlimmeres, als dass dieses Mädchen sie auslachen würde, konnte ja nicht passieren.
"Nein, nur hören. Sags nicht den anderen."
Nur weil Miyu es wusste, gab es noch keinen Grund, es die anderen wissen zu lassen. Und wenn Miyu anfangen sollte wild rumzuplaudern, dann ... dann würde sie sich eben mit einem Engel im Kampf messen müssen, aber das wollte Vilo vermeiden. Die Chancen, dass sie selbst den kürzeren ziehen würde, waren hoch. Immerhin war Miyu ein Engel ... und über diese Spezies wusste sie fast nichts.
Nur, dass sie einigermaßen menschlich aussehen.
"Wenns dir nichts ausmacht, würde ich gerne dein Gesicht betasten. Dann weiss ich ungefähr, wie du aussiehst. Nur, wenn du willst natürlich."
Sie war im Moment ziemlich neugierig, welches Gesicht diese Stimme und Hilfsbereitschaft hatte. Später würde sie mit den Karten genaueres erkennen können.

Vilo ist also blind. Miyu dachte nicht einmal daran zu lachen. So etwas war nicht lustig. "Oh. Keine Angst ich sag es nicht weiter."
Miyu war nicht der Typ der Geheimnisse einfach ausplauderte. Besonders dann nicht wenn es die Geheimnisse anderer Personen sind. Sie wusch sich das Shampoo aus den Haaren. Aber eine Frage hatte sie noch. "Und warum hast du dann gesagt ich wäre klein und dass meine Haare schön wären?" Diese Frage beschäftigte sie wirklich. Es war schon irgendwie komisch. Hatte Vilo das mit ihrem Haar etwa nur geraten?
"Du möchtest mein Gesicht abtasten?", fragt Miyu ein wenig erstaunt, "Naja... wenn du möchtest."
Sie machte das Wasser aus und schloss die Augen. Sie wusste nicht wie es war zu leben ohne etwas sehen zu können.