Die Westküste der Insel verfügt anders als die Ostküste, die zu einem großen Teil aus steilen Klippen besteht, über eine gute Infrastruktur. Über eine gepflegte Küstenstraße gelangt man vom Süden der Insel, wo sich die belebten Badestrände befinden entlang der Westküste auf etwa halber Höhe zum Hafen. Auf dieser Strecke des Weges sind entlang der Straße noch die ein oder anderen Läden und Restaurants an der Straßen- sowie an der Meeresseite. Fährt man die Uferstraße noch einige Kilometer weiter, so erreicht man nach einigen verlassenen Buchten und kleineren Anhöhen mit verwilderten Wiesen bald die Höhe des Areals der Shima no Koji Oberschule sowie das Schülerwohnheim. Die Straße führt in etwa bis zum nördlichsten Punkt der Insel, wo sich der Strand des alten Waisenhauses einst befand.
Es hatte schon einen kleinen Unterhaltungswert, wenn der Rotschopf sich beim Laufen über seinen ach so geliebten Tee brüskierte. Den Punkt wollte ihm die Löwin nicht absprechen. Sie würde ihm lediglich raten diese Farce nicht zu lange abzuziehen, sonst wurde sie schneller langweilig als eine Antilope in Schockstarre. Außerdem kam dazu, dass sie mit diesem komischen Tee-Stereotyp nicht wirklich was anfangen konnte. Wenigstens nutzte er die Überleitung für einen guten Themenwechsel. Selbst, wenn Cynthia noch nicht wirklich das Bedürfnis hatte sich nun mit Flüssigkeit zu versorgen. Sie würde ihn auf jeden Fall nicht aufhalten, sollte ihn das dazu ermutigen seine bisherige Leistung weiter aufrechtzuerhalten. Sie war ja schon begeistert darüber, dass Mathéo bis zu diesem Punkt ausgehalten hatte. „Trink was du willst, ich brauch‘ nix.“, lehnte sie das Angebot ab und schaute dabei zu seinen leicht fehlerhaften Versuchen eines seiner obercoolen Portale in der Luft erscheinen zu lassen. Ihr selbst ein zufriedenes Grinsen auf die Lippen zaubernd, dass sowohl Schadenfreude als auch Verwunderung widerspiegelte. Zugegeben: Es beruhigte sie irgendwie, dass auch diesem Hokuspokus-Meister manche Dinge nicht direkt in den Schoß fielen. Manchmal hatte man bei diesen Magiern immer den Eindruck, sie hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen. Von daher ließ sie den Dämon mit einem „Wie unglaublich schade.“ vom Haken, anstatt die Aktion nun auf einen Seziertisch zu zerren und jede noch so kleine Möglichkeit seiner Demütigung darin ausfindig zu machen. Zum einen war ihr das viel zu anstrengend und zum anderen war es einfach nicht ihr Stil. Sowas überließ sie den Prinzessinnen der Insel, die hatten sich das ja gefühlt schon zum Nebenjob gemacht. Sie verdrehte schon wieder innerlich ihre Augen, als sie daran dachte. Naja, nicht ihr Problem, wenn man seine Zeit damit verschwenden wollte. Sie hatte besseres zu tun. Laufen, zum Beispiel. Sie hatten während des Gespräches ja nicht angehalten. „Will ich auch gemeint haben.“, stimmte sie ihm zu und zog ihr Tempo ein kleines bisschen an. Immer noch keine eindeutigen Anzeichen von Müdigkeit in ihren Gliedmaßen tragend. Nur der Schweiß zeugte bei ihr von einer leichten Anstrengung und ließ ihren Bauchbereich, sowie die Arme im Sonnenlicht leicht glitzern. Und wenn man schonmal dabei war: Pause war keine Option. „Alter, wenn du jetzt anfängst ne Pause zu machen, dann fährt dein Lauch-Körper doch gleich wieder in seinen verschissenen Tee-Modus.“, warf sie ein und zog das Tempo ein bisschen an, damit sie den Strand noch rechtzeitig erreichen würden. Sie hatte immerhin nicht vor ihr ganzes Leben auf dieser verschissenen Küstenstraße zu verbringen. „Also gib mal nen bisschen Gas, ansonsten muss ich dich hier steh’n lassen.“, und sie meinte das wirklich so, wie sie es sagte. Klar, nach einer halben Stunde hätte sie den Rückweg angetreten und hätte beiläufig mal nach ihm gesehen. Aber ansonsten? Nein, er hatte klipp und klar gesagt bekommen, worauf er sich einließ. Da war irgendeine Form von Mitleid sichtlich deplatziert. „Is‘ auch nicht mehr so weit. In fünf verfickten Minuten kannst du meinetwegen so viel Pause machen wie du willst.“, sie lachte sichtlich amüsiert auf bei dem Gedanken neben einem sichtlich geschafften Rotschopf zu stehen, der sich erst einmal sammeln musste. Ihre einzige Form von sichtlicher Überlegenheit, wenn sie schon keine schwarzen Löcher aus dem Nichts erschaffen konnte. Sie überlegte schon sich am Ende der Tour einfach ins Wasser zu schmeißen. Abkühlen, chillen, solche Sachen. Bei dem Gedanken hatte sie plötzlich eine Idee. „Eh, Rotschopf, mach zehn Minuten draus. Da! Links! Den Pfad runter!“, und kaum war das gesagt, joggte sie auch schon vor ins Ungewisse. Er würde schon merken, wo sie hin wollte …
Irgendwie fühlte es sich wie ein hin und her an. Es ging hin zu seiner Demütigung und her zu seiner Rehabilitation. Den Fehltritt mit der Rast hatte er - anscheinend - erfolgreich begradigen können. Eine Julia hätte ihm die spitzen Fingernägel zwischen die Rippen gespießt und drin herumgedreht, bis er seine Begradigung wieder beungradigte. Aber Cynthia schien an so was keinen Spaß zu haben. Glück für ihn. War auch mal eine angenehme Abwechslung, wenn man nicht mehr so stark auf seine Worte achten musste, weil sie als Waffen zurückgeschleudert werden konnten. Das änderte aber nichts daran, dass Cynthia gerne mit ihrer körperlichen Einsatzfähigkeit zu prahlen schien. Zwar hielt sie ihm nicht unter die Nase, wie schnell und ausdauernd sie war, doch sie forderte mehr und mehr ein, zu dem sie selbst offensichtlich locker in der Lage war, von ihren Begleitern jedoch - erneut anscheinend - nicht selten enttäuscht wurde. Und nochmal: Er war zwar ein Dämon, dem kein Mensch das Wasser reichen konnte, doch diese Tiermenschen verfügten oft über abnormale physische Merkmale, dass selbst ihre tierischen Verwandten in die Röhre schauten.
Was Mathéo so sehr verletzte, dass ein überdeckendes Schauspiel wirklich sehr schwer fiel, war ihre Beschreibung eines … Lauch- … Körpers … What?! Der Tristam wollte seinen Ohren nicht recht trauen. Sie hatte ihn gerade wirklich als einen Lauch bezeichnet. Und Mathéo fragte sich sofort, wo er denn ein Lauch war. Nur weil man nicht aussah wie dieser bepackte Lehrer, musste man ja nicht gleich als fahles Blatt Papier gelten. In dem Fall war Cynthia nicht besser. An ihrem Körper hingen auch keine Baumstämme als Arme. Das einzig umfangreiche bei ihr bestand aus Fett statt aus Muskeln. Aber ihn als Lauch darstellen? Mathéo brüskierte sich innerlich; hatte alle Mühe, den Frust in sich zu stauen. »Pass mal auf, du Katzenminzenstrohhalm«, murmelte er vor sich hin, während Cynthia weiter Sprüche klopfte. Die werte Löwendame kündete an, das Tempo anziehen zu wollen. Und statt dem Tristam die Chance zur Intervention zu gönnen, setzte sie ihre Worte direkt in die Tat um. Mathéo musste sich von seinem gemütlichen Jogging-Tempo verabschieden. Nun wurde auf Löwen-Art gejoggt. Und falls man da immer noch den Eindruck gewann, Löwen waren lahme Enten, so entschied sich Cynthia etwas später dazu, erneut eine Schippe mehr in den Ofen zu werfen. Der Kessel sollte wackeln vor Hitze und Energie. Da war es nicht überraschend, dass sich die Schweißperlen auf der Stirn des Tristams vermehrten. Aber das Tempo ging noch. Kein Problem, dachte er sich. Sie waren kaum lange unterwegs und zu einem normalen Jogging-Ausflug gehörte sogar noch mehr. Außerdem kündigte Cynthia nur fünf Minuten für das Finale an.
»Alles klar«, meinte er erst nur und überschlag selbst den Weg zum Strand. Die paar Minuten würde er wegstecken können, da musste er sich keine Sorgen machen. Auch ihre kleinen Psychospielchen, wie er sie gerade gerne nennen wollte, konnten ihn nicht einschüchtern. Erst als er sich bis zum Ziel in Sicherheit wiegen wollte und sie mit einem erneuten Anheben des Schwierigkeitsgrads meldete, erschrak er innerlich. Mehr Tempo, mehr Zeit, anderes Ziel. Mathéo seufzte innerlich, beschleunigte seinen Schritt und folgte Cynthia, die offenkundig nicht mehr den originären Weg zum Strand verfolgte. Kurz fragte sich der Dämon, was sie im Schilde führte, bemerkte dann aber nur ein paar Schritten, in welche Richtung es gehen sollte. »Hm«, murmelte er etwas, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte. Zum Glück hielt das Band.