Über eine Treppe am äußersten Ende des hofseitigen Parterres gelangt man in das Tiefparterre des Anwesens, wo sich unter anderem der kleine Lagerraum befindet. Alles, was nicht am Dachboden verstaut werden soll, kann man hier finden. Es handelt sich um einen sehr dunklen Raum, dessen einzige Lichtquelle ein winziges Fenster ist - wie es in einem tiefer gelegenen Raum nun mal der Fall ist. Matratzen, Bettbezüge, zusätzliche Kissen und Decken werden hier aufbewahrt. Sogar alte Schultische werden an diesem Ort gelagert. Mit dem Schlüssel des Heimleiters, eines Erziehers oder der Sekretärin kann man sich problemlos vom Inventar des Lagers bedienen.
Vollkommen außer Atem schob Wasabi ihren Generalschlüssel ins Schlüsselloch und drehte ihn um, bis ein befriedigendes Klicken zu hören war. Sie war sich nicht sicher gewesen, ob ihr der Schlüssel selbst Eintritt ins Lager gewährte, aber dem schien so zu sein. Denn obwohl sie als Hausmeisterin praktisch alle Stauräume und Kabuffs des Wohnheims kannte, hatte sie diesen verstaubten und vernachlässigten Raum bisher noch nie betreten müssen. Ihre Nase kitzelte beim Eintreten und brachte sie zum Niesen. Wusste überhaupt jemand um die Existenz dieses Raumes? Wasabi fühlte sich, als hätte sie einen geheimen Speicher entdeckt, der ab sofort ihr neues zu Hause sein würde. Zumindest ihr vorübergehendes Heim, bis sie sich einen Plan zurechtbastelte. Da durch das kleine Fenster und den Türspalt etwas Licht in den Raum fiel, konnte Wasabi einige Matratzen, Kissen und Decken sichten. Genau das, was sie brauchte! Hätte sie hier lediglich zurückgelassenes Mobiliar vorgefunden, hätte das dem Einzug in ihr neues Traumhaus einen dicken Dämpfer verpasst. Bevor sie sich daran machte ihr Bett zusammenzusuchen, legte sie den Rucksack ab und streckte sich ordentlich, bis irgendein Knochen in ihrem Rücken dumpf knackte. Ein Glück, dass sie den Reisekoffer neben sich her rollen konnte. Sonst hätte sie bei dem Gewicht wohl schon nach der Hälfte des Weges schlapp gemacht. „Matratze… Decke… keine Bettwäsche?“, murmelte Wasabi vor sich hin, während sie eifrig den Lagerbestand durchforstete. Ihre Augen hatten sich immer noch nicht hundertprozentig an die Lichtsituation gewöhnt, sodass sie sich eher auf ihren Tastsinn verließ, während die Sehkraft in ihrem einen Augen langsam aber stetig zurückkehrte. „Ah, dort.“ Erleichtert zog sie jeweils einen Kissen- und einen Deckenbezug aus einem Stapel und begann ihr Bettzeug zu beziehen. Der Gedanke, dass sie allein in einer dunklen Rumpelkammer saß und ein provisorisches Bett bezog, nachdem sie aus ihrer Wohnung geflüchtet war, kam ihr dabei überhaupt nicht merkwürdig vor. Dann wiederum dachte sie nicht über die genauen Umstände ihrer Situation nach. Nachdenken führte zu grübeln und grübeln führte zu Traurigkeit. Das konnte sie sich jetzt nicht leisten. Sie brauchte ihre Konzentration, um die Decke gleichmäßig im dünnen Bezug zu verteilen und letztlich die Knöpfe zu schließen, ohne dass alles wieder verrutschte. Nachdem alles ordentlich bezogen war, schob sie die Matratze in die überdachte Ecke neben der Holzleiter und platzierte ihren Koffer wie einen Schutzwall davor. Dann setzte sie sich mit an den Körper gezogenen Beinen in ihr Gemach und seufzte. Selbst, wenn sie aufmerksam hinhorchte, war es verdächtig ruhig. Weder vom Flur noch von draußen kamen irgendwelche Geräusche oder Stimmen. Auch auf dem Weg hierher war sie niemandem begegnet. Sie rannte aus ihrer Wohnung, um der Einsamkeit zu entkommen und fühlte sich nun an ihrem Ziel noch einsamer… wie ironisch. Mit einem Kloß, der sich in ihrem Hals bildete, legte Wasabi den Kopf auf ihre Knie und schloss die Augen. Was tat sie hier? Was sollte sie morgen tun, wenn sie wieder als arbeitende Kraft erwartet wurde? Sie fühlte sich hilflos und unfähig und wünschte sich gerade nichts lieber als von ihrer Mutter in den Arm genommen zu werden. Oder von irgendjemandem.
Bevor es an den Kontrollgang gehen würde, musste sich der Vampir erst einmal um seinen wieder viel zu vollen Wäschekorb kümmern. Und da ihm weder auf dem Weg in den Keller, noch im Waschraum selbst Schüler begegnet sind, musste er sich damit nicht abhetzen. Vermutlich waren sie längst alle ausgeflogen, um den freien Tag noch zu genießen. Seine Kollegen hätten sich schon gemeldet, sollte Arbeit angefallen sein. Und wenn nicht, tja, nicht sein Problem. Denn Hellsehen zählte definitiv nicht zu seinen Begabungen. Wäsche waschen schon eher, weshalb es nicht lange dauerte, bis der kleine Berg in der Maschine verschwunden war und diese fröhlich begann, ihre Arbeit zu machen. Den Wäschekorb ließ er einfach oben auf der Waschmaschine stehen, das Waschmittel selbst wurde wieder zurück ins Regal geräumt. Mit einem wechselnden Blick zwischen Uhr und Anzeige auf der Waschmaschine rechnete er kurz aus, wie lange er sich die Zeit vertreiben musste und verließ den Waschkeller.
Auf dem Weg nach oben fiel ihm dann auf, dass die Tür zum Lagerraum offenstand. Hatte jemand vergessen, sie abzuschließen? Während der Erzieher den Gang entlang ging, kramte er aus seiner Hosentasche den Schlüsselbund heraus. Seit seiner Ankunft hier musste er diesen Raum nur einmal betreten und hatte dessen Existenz beinahe schon völlig verdrängt. Doch eine offenstehende Tür, die man nur mit einem Personalschlüssel öffnen konnte, konnte er ja nicht einfach ignorieren. Vielleicht war das Schloss defekt, sollte keiner seiner Kollegen vergessen haben, wieder abzuschließen. In dem Falle müsste er der Heimleitung oder den Hausmeistern noch einen kurzen Besuch abstatten. Aber in den nächsten Sekunden würde er es schon herausfinden. Nach wenigen Schritten kam er vor dem Raum zum Stehen und wollte die Tür einfach wieder zuziehen – schließlich brannte im Inneren kein Licht, was nicht darauf schließen ließ, dass dort gerade jemand war. Doch kurz bevor die Tür ins Schloss fiel, hielt er inne. War da gerade ein Geräusch zu hören? Konzentriert horchte er auf, doch es war nichts mehr zu vernehmen. Vielleicht eine Ratte? Um dem nachzugehen, betrat er langsam den Raum und ließ den Blick kurz umherschweifen. Die Augen des Vampirs waren schnell an die Dunkelheit gewöhnt, sodass Licht mehr als nur überflüssig war. Auf den ersten Blick war allerdings nichts zu sehen. Um zu verhindern, dass ein möglicherweise hier drin lebendes Tier ins Wohnheim flieht und dort für immer in den Zimmern der Kinder verschwand, schloss er die Tür sicherheitshalber ganz. So blieb nur noch der düstere Lichtschein, welcher durch das kleine Fenster hereinfiel. Nicht, dass ihn das irgendwie einschränken würde. Wäre ungünstig, wenn man meist nachts jagen ging. Und so einen großen Unterschied zu den düsteren Wäldern gab auch gar nicht, von der Raumausstattung und den Umständen mal abgesehen. Man konnte sich eben alles irgendwie schönreden. Aber genug herumgestanden. Schließlich hatte er heute noch ein bisschen was zu tun und wollte sich nicht den ganzen Tag im Lagerraum verkriechen. Leisen Schrittes bewegte er sich von der Tür weg und horchte, aus welcher Richtung die Geräusche wohl kamen. Und die Jagt viel kürzer als gedacht aus. Und mit einer – zumindest für einen Vampir, der sich über einen Snack gefreut hatte – ernüchternden Ausbeute. Ziemlich überrascht sah er auf das kleine, zusammengekauerte Häufchen auf der Matratze in der Ecke. War das nicht-? „Wasabi?“, fragte er leise in die Richtung der jungen Frau, hoffend, sich richtig an den Namen der Hausmeisterin zu erinnern. Damit sie nicht weiter im Dunkeln sitzen musste ging er doch wieder zur Tür und betätigte den Lichtschalter, woraufhin er für einen kurzen Moment die Augen schließen musste, um nicht völlig geblendet zu werden.
Wasabi hatte nicht gehört, wie sich jemand dem Raum genähert und ihn schließlich betreten hatte. Die Person musste leichtfüßig unterwegs und die Grünhaarige zu sehr in ihren Gedanken versunken sein, um einen Eindringling zu bemerken. Oder war sie streng genommen der Eindringling hier? Wie auch immer. Sie hatte sich hier zuerst unbemerkt hineingeschlichen, demnach war der Unbekannte, der plötzlich über ihren Koffer lugte und ihren Namen aussprach und Wasabi dadurch aufschrecken ließ, der Obereindringling! Im ersten Moment verharrte sie in ihrer zusammengekauerten Position, in der Hoffnung, den unerwünschten Besuch dadurch verunsichern zu können. Ja, sie war gar nicht hier und nur ein Hirngespenst der zunächst unbekannten Stimme. Als jedoch eine sparsame Glühbirne, die schon bessere Tage gesehen hatte, das Lager erhellte, konnte Wasabi diese Taktik nicht lange aufrechterhalten. Im Dunkeln wäre sie vielleicht noch als Fantasiegebilde durchgegangen, doch im Hellen bestanden keine Zweifel an ihrer fragwürdigen Anwesenheit in diesem Lagerraum. Zumal sie sich nach einigen Sekunden der Schweigsamkeit selbst ein wenig lächerlich vorkam. Sie war schließlich kein Kind, das dem Motto folgte: Wenn ich die Person nicht sehe, sieht sie mich ganz bestimmt auch nicht. Sie war eine Erwachsene. Und als Erwachsene konnte man Konfrontationen nicht einfach so lange ausblenden, bis sie sich vielleicht (oder vielleicht auch nicht) von selbst lösten. Deshalb musste sie so handeln wie eine verantwortungsbewusste, erwachsene Persönlichkeit. Und doch … statt einer Begrüßung oder einer Erklärung war alles, was ihr über die Lippen kam ein schwaches und verunsichertes: „Nein?“ Prompt kniff sie die Augen zusammen und gab sich aus Frust selbst einen leichten Klaps gegen die Schläfe. Der Wille sich nicht absolut unreif zu verhalten war dagewesen, das schwor Wasabi auf ihr liebstes Paar Turnschuhe. Nur an der Ausführung mangelte es bei ihr, wie so oft. Da es sich nur um Sekunden handelte, bis man sie entdeckte, rappelte sie sich auf in die Hocke und lugte aus ihrem Versteck heraus. Im schlimmsten Fall hätte Frau Bardera sie hier erwischt, doch die Stimme war männlich gewesen, da war Wasabi sich sicher. Also war ihre größte Angst schon einmal vom Tisch. Und als sie Jacob sah, fiel ihr ein kleiner Fels vom Herzen. Sie kannte den Erzieher nicht sonderlich gut, doch er hatte auf sie bisher einen nichts als freundlichen und offenen Eindruck gemacht. Sie ging sogar so weit und behauptete, dass er ihr von allen Kollegen, die sie nicht zu ihren Freunden zählte, der liebste war. „Bin ich jetzt in Schwierigkeiten?“, fragte sie Jacob mit leicht geröteten Augen, die ihn aus ihrer Festung heraus anblinzelten. Obwohl sie froh war, dass es nur der Erzieher war, machte sie nicht den Anschein aus der Ecke hervorkommen zu wollen. Sie fühlte sich in ihrem überdachten Lager gerade zu wohl und sicher, um es freiwillig zu verlassen.
Hatte sie den Erzieher etwa nicht gehört? Doch, bestimmt. Ganz so leise hatte er nun auch nicht gesprochen. Spätestens, als ein schwacher Lichtschein auf die Grünhaarige fiel, konnte sie es nicht mehr leugnen. Sollte man zumindest meinen. Prüfend musterte er die zusammengekauerte Hausmeisterin, konnte auf den ersten Blick jedoch keine offensichtlichen Verletzungen entdecken, die ein solches Verhalten rechtfertigten. Von blutenden Wunden ganz zu schweigen, um so etwas zu bemerken, hätte er sie nicht einmal ansehen müssen. Eines der wenigen Vorteile, die das Vampirdasein mit sich brachte. Vielleicht sollte er Riley in Zukunft als Assistent dienen? Mit einem leichten Kopfschütteln verdrängte er diesen Gedanken schnell wieder und konzentrierte sich auf das Wesentliche. Zumal die endlich antwortende Stimme alles andere als selbstsicher klang. Die unsicheren Worte entlockten dem Schwarzschopf ein sanftes Lächeln. Oh je. Er hatte nie viel Kontakt zu den Hausmeistern gepflegt, dennoch war ihm schon einmal – wenn auch nur flüchtig – aufgefallen, dass Wasabi sich stets etwas zurückhielt. Und so hielt er es erstmal für das Beste, sie nicht weiter zu bedrängen oder gar zu ihr in die Ecke zu kriechen. Er würde erst einmal ruhig in der Mitte des Raumes warten, bis sie vielleicht von selbst heraus kaum. Und tatsächlich, seine Geduld wurde belohnt. Ein mit Staubfusseln übersäter Haarschopf kam zum Vorschein. Der Vampir hatte sich in der Zwischenzeit locker gegen einen der Tische gelehnt und erwartete die Einbrecherin mit einer neutralen, jedoch keinesfalls abweisenden Körperhaltung. Die Hände hinter sich locker auf die Tischplatte aufgestützt, die Füße leicht überschlagen und ein schwaches Lächeln auf den Lippen erwartete die Hausmeisterin. „Nein, wieso Schwierigkeiten?“ Im ersten Augenblick erschloss sich ihm diese Assoziation nicht, doch die geröteten Augen verrieten ihm, dass sie gerade vielleicht nicht in der Stimmung für irgendwelche lockeren Scherze war. So verkniff er sich das lieber und entschied sich für einige beschwichtigende Worte: „Du hast doch einen Schlüssel zu diesem Raum, da wird schon keiner Fragen stellen.“ Zumindest nicht dazu, warum sie hier drin war. Eher das wie sie hier drin war. Die goldenen Iriden wanderten über das mitgebrachte Gepäck und kamen auf dem Gesicht der Hausmeisterin wieder zum Stehen. „Wolltest du hier übernachten?“, äußerte er vorsichtig seine erste Vermutung, sehr bedacht darauf, es nicht wie einen Vorwurf klingen zu lassen. Auch, wenn sowas nicht gerade zu seinen Stärken zählte. Es kam auf den Versuch an, nicht? Wenigstens machte er keinerlei Anstalten, sich von seinem gemütlichen Platz auf dem Tisch weg zu bewegen und Wasabi irgendwie zu bedrängen. Sie würde früher oder später schon von alleine herauskommen. Und wenn nicht, dann gab es durchaus effektivere Methoden, sie aus ihrem Versteck zu locken. Doch bis jetzt gab es für ein solches Vorgehen noch keinerlei Gründe. Er musste erst einmal herausfinden, was sie sich bei ihrem Vorhaben hier überhaupt gedacht hatte. Vielleicht interpretierte er ihr gesamtes Verhalten ja auch einfach nur falsch – wäre nicht das erste Mal, dass ihm ein solcher Fehler unterläuft. Auch, wenn ihm nicht in den Sinn kam, was – abseits von einer Übernachtung – das hier geben sollte. Verstand sie sich nicht mit Chloe super? Diesen Trumpf würde er auf jeden Fall im Hinterkopf behalten, sollte er auf taube Ohren stoßen. Aber der Vampir wollte ja nicht vorschnell handeln, so ließ er ihr alle Zeit der Welt, um sich zu beruhigen und zu reagieren.
Erleichtert darüber, dass Jacob sie nicht aus ihrem Versteck zerrte oder sich ihr aufdrängte, ging Wasabi einen Schritt auf ihn zu. Sinnbildlich. Sie ging nicht wirklich einen Schritt, aber sie rutschte ein Stück nach vorn und legte die Arme auf ihren Koffer. So befand Wasabi sich immer noch innerhalb ihrer Komfortzone, während sie weniger so wirkte als versteckte sie sich vor dem Erzieher. Jacob musste ihr Gepäck auf den ersten Blick nicht aufgefallen sein, denn er erwiderte ihre Frage mit einer verwunderten Gegenfrage. Ihr Nachtlager gab sich neben dem sowieso überall herumliegenden Bettzeug wohl nicht direkt als solches zu erkennen und der Koffer konnte genauso gut einer anderen Person gehören oder niemandem. Wasabi könnte behaupten hierher gekommen zu sein, um aufzuräumen oder nach einem Ersatzkissen zu suchen oder um merkwürdigen Geräuschen auf den Grund zu gehen. Alles plausible Gründe, aus denen sich eine Hausmeisterin zu später Stunde noch in einem Lagerraum aufhielt. Und Jacob hatte ein gutes Argument, sie hatte schließlich einen Schlüssel für den Raum und war nicht unerlaubt hier. Das Problem war nur, dass Wasabi eine furchtbare Lügnerin war. Der Vorsatz eine glaubhafte Erklärung für ihren Aufenthalt zu liefern, bröckelte so haltlos wie der günstige Wandbelag des Abstellraums bei der kleinsten Berührung, als Jacob seine Vermutung und soit die Wahrheit äußerte. Es abzustreiten war zwecklos, ihre ausweichenden Blicke sprachen Bände. „Nur für heute Nacht“, murmelte sie. Vorerst. Zugegebenermaßen hatte Wasabi auch noch nicht viel weiter gedacht, eben wie jemand, der komplett aus einem Impuls heraus handelte. „Ich... möchte nicht mehr in meiner Wohnung wohnen. Ich bin da immer alleine. Ich mag das nicht“, vertraute sie sich Jacob anschließend zögerlich an. Sie hatte Chloe als unmittelbare Nachbarin und das war definitiv eine riesige Erleichterung, aber wie viel Aufmerksamkeit konnte sie Chloe abverlangen, bevor sie sich erdrückt fühlte und vielleicht auch das Weite suchte? Ihre beste Freundin war eine erwachsene Person mit einem Job und einem eigenen Bekannten- und Freundeskreis. Sie existierte nicht nur, um Wasabis Bedürfnis nach Stabilität und Halt zu erfüllen. So ungern diese Tatsache auch in ihren Kopf hinein wollte, es entsprach der Realität. „Und...“, begann sie, senkte allerdings daraufhin den Blick und haderte für ein paar Sekunden mit sich selbst. Wenn sie es aussprach, ihre Bedenken und Wünsche einer anderen Person gegenüber äußerte, würden sie Form annehmen und nicht mehr nur als „was wäre wenn“-Fantasien in ihrem Kopf herumspuken. War sie dafür bereit? Oder eher: konnte sie es aussprechen, obwohl sie wahrscheinlich nie bereit sein würde? Nach einem leisen Räuspern fuhr sie fort. „Glaubst du Frau Bardera und Herr Vincent wären böse, wenn ich hier nicht mehr arbeiten möchte?“ Nachdem sie es ausgesprochen hatte, fiel ihr ein Stein von der Seele – zumindest ein kleiner Teil des hartnäckigen Brockens. Sie schaute Jacob an, nervös darüber, wie seine Reaktion ausfallen würde. Vielleicht hätte sie doch lieber mit einer schlechten Notlüge verbleiben sollen.
Dass die Hausmeisterin sich nicht wieder in ihre Ecke verkroch, sondern sogar näher in seine Richtung rutschte, wertete der Vampir schon einmal als Schritt in die richtige Richtung. All zu viel Falsches schien er somit nicht von sich gegeben zu haben und die Situation blieb nach wie vor entspannt. Zumindest von seiner Seite aus. Wasabi sah alles andere als entspannt aus, doch er würde schon noch dahinterkommen, wieso. Mit seiner ersten Vermutung schien er zumindest nicht im Dunkeln zu tappen, wie sie ihm wenig später sogar bestätigte. Nur warum? Auf Anhieb fiel ihm kein plausibler Grund für so ein Vorhaben ein, zumindest aus seiner Sicht. Andere Leute, andere Denkweisen. Und gerade, als er sich die nächste Frage zurechtgelegt hatte, um weiter voran zu kommen, erhob die junge Frau wieder ihre Stimme. Mit einem kaum hörbaren: „Hm…“ gab er ihr zu verstehen, dass ihre Worte wenigstens ankamen. Doch so recht wusste der Schwarzschopf nicht, was er darauf erwidern sollte. Zumindest nicht auf Anhieb. Mit nachdenklicher Mine musterte er den Koffer und setzte einige weitere Puzzleteile in sein Gesamtbild ein. Eine Wohngemeinschaft wäre auf Anhieb der erste Lösungsansatz, doch hätte sie das vorgehabt – im Idealfall mit Chloe – wäre sie garantiert nicht hier. Und es schien auch keine allzu spontane Entscheidung zu sein, sonst würde der Koffer nicht dastehen. So viele Möglichkeiten… doch ehe der Vampir seinen Gedanken noch länger nachhing, kam eine weitere Erklärung. Zumindest klang es wie der Anfang von einer. Als nach einer längeren Pause noch immer nichts kam, hakte er mit einem zaghaften: „Ja?“ noch einmal nach.
Was dann kam, übertraf seine Vermutungen bei weitem. Dennoch klang die ganze Geschichte nicht so absurd, dass ihm sämtliche Gesichtszüge entglitten. Nein, das freundliche, sanfte Lächeln hielt stand. Auch, wenn der Gedanke daran nicht gerade schön war. Schließlich war es in aller erster Linie der Verlust einer Kollegin, selbst wenn sie nie wirklich etwas miteinander zu tun hatten. Aber nun war nicht der Zeitpunkt, sich wieder in wirren Gedanken zu verlieren. „Nein, wieso sollten sie böse sein?“, fragte er mit leicht hochgezogener Augenbraue in ihre Richtung. Es gab wenige Situationen, in denen er sich vorstellen könnte, dass die beiden bei einer Kündigung aus der Haut fahren würden. Nein, eigentlich fiel ihm keine einzige ein. „Wenn du dich beruflich weiterentwickeln möchtest, wären die beiden bestimmt die letzten Personen, die dir da Steine in den Weg legen werden. Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen“, spendierte er seiner Frage direkt selbst eine passende Antwort. Der Gedanke daran war wirklich absurd. Jemandem von etwas abzuhalten, was ihn glücklich macht, erschien in Jacobs Augen wie nichts, was ein Vorgesetzter tun würde. Und wenn doch, dann hatte man einen Grund mehr, warum man kündigen sollte. Doch damit gab es für ihre aktuelle Situation noch immer keine Lösung. „Aber wenn du nicht alleine in deiner Wohnung bleiben möchtest“, setzte er erneut an, überlegte sich die folgenden Worte dann aber doch noch einmal anders. „Ist der Lagerraum da wirklich die beste Option?“ Schwer vorstellbar.
Obwohl Wasabi ihrem Noch-Kollegen die überwiegend wortlose Reaktion auf die ganze Situation nicht übelnehmen konnte — sie hatte ihn schließlich ohne Vorwarnung damit überfallen — machte sie Jacobs nachdenkliche Miene nervös. Wahrscheinlich grundlos, da er Wasabi in keiner Weise Ablehnung entgegenbrachte. Doch sie brauchte zumeist gesprochene Worte, um ihren Gesprächspartner einschätzen zu können. Mimik und Gestik gaben ihr zwar oft eine vage Ahnung, jedoch weniger in Ausnahmesituationen und in Bezug auf Menschen, die sie kaum kannte. Daher musterte sie Jacobs Gesichtszüge aufmerksam auf der Suche nach Hinweisen, doch abseits des beständigen, fast schon aufgemalt wirkenden Lächelns, fand Wasabi keinerlei Spuren auf seinen Gemütszustand.
Zumindest auf ihr zweites Anliegen bekam Wasabi eine Antwort, wenn auch zunächst eine rhetorische Frage. Gut, dass Jacob ihr keine Zeit zum Antworten ließ, denn eine stichfeste Erwiderung wäre ihr sowieso spontan nicht eingefallen. Der einzige Grund, weshalb Wasabi von vornherein davon ausging, dass ihre beiden Vorgesetzten negativ reagieren würden, war ihre seit jeher holprige Beziehung zur Direktorin. „Wirklich? Frau Bardera auch nicht?“, hakte sie unsicher nach, eine Haarsträhne um den Finger wickelnd. Ihre Sorgen hatte Jacob ihr mit seinen rational begründeten Worten noch nicht genommen, höchstens ein klein wenig abgedämpft. Auf seine kritische Frage hin blickte Wasabi abwägend von links nach rechts, als müsste sie den Raum erst genau in Augenschein nehmen, um antworten zu können. Dabei war die Antwort so oder so ein klares Nein. Ganz davon abgesehen, dass es bestimmt illegal war dauerhaft im Abstellraum des Wohnheims zu leben, würde Vincent es auf keinen Fall begrüßen, wenn er Wind davon bekäme. „Ich wusste nicht wohin“, gab sie zu und lehnte sich zunehmend gegen ihren Koffer, der kurz darauf vorn überkippte und mit einem dumpfen Knall aufkam. Statt den Versuch zu unternehmen ihren Schutzwall wieder aufzurichten, starrte sie den Koffer nur für eine Sekunde tonlos an, als könnte sie diesen Verrat nicht fassen. „Ich hatte eine Idee, aber ich weiß nicht ob sie gut ist.“ Sie machte eine kurze Pause, um sich zu sammeln und flüchtigen, bestätigungssuchenden Augenkontakt zu Jacob herzustellen. „Ich will hier nicht mehr arbeiten. Aber ich will hier auch nicht weggehen. Ich mag es hier.“ Obwohl Wasabis Stimme nicht vor Emotionen überquoll, konnte man eine gewisse Entschlossenheit in ihrem Gesicht erkennen. Jedenfalls hoffte sie, dass man ihr die Ernsthaftigkeit des Beschlusses auch ansah. „Kann ich hier zur Schule gehen? Und lernen? Ich möchte auch einen Abschluss haben.“ Sie machte kein Geheimnis und keine große Sache daraus, dass sie nie formal die Schullaufbahn beendet hatte und hoffte, dass auch Jacob es nicht tat. Das war schließlich nicht der Knackpunkt ihrer Worte, eher eine Bonusinfo, die ihr in dem Zusammenhang spontan über die Lippen gerutscht war. Sie stemmte die Hände auf die Oberseite des Koffers und lehnte sich ein Stück nach vorn, während ihr Blick nervös zwischen Jacob und dem Fußboden hin und her wanderte.
In Gedanken versuchte Jacob sich auszumalen, wie die Direktorin wohl auf so eine Kündigung reagierte. Doch egal, welches Szenario er in seinem Kopf hatte – für eine wirklich wütende Reaktion fehlte es ihm eindeutig an Vorstellungskraft. Klar, er hatte schon mitbekommen, dass Frau Bardera auch mal strenger werden konnte. Aber wirklich wütend? Eigentlich nicht. Vielleicht hatte er sie aber auch noch nie so sehr auf dem falschen Fuß erwischt. Doch das war nichts, was er sagen würde, um die baldige ehemalige Hausmeisterin beruhigen zu wollen. Würde vermutlich eher das Gegenteil bringen, also nein. „Nein, Frau Bardera auch nicht. Ich kann mir zumindest keinen Gesprächsverlauf ausmalen, in dem sie wütend auf eine Kündigung reagieren würde.“ Sich etwas vom Tisch abstoßend stand er nun wieder aufrecht im Raum, die rechte Hand in der Hosentasche verschwinden lassend. „Außerdem, Vincent wird ihr da bestimmt gut zureden. Sollte es doch zu Unstimmigkeiten kommen. Aber das kann ich mir wie gesagt wirklich nicht vorstellen.“ Ob das wohl ausreichen würde, um ihr die Zweifel auszutreiben? Hoffentlich konnte er ihr so wenigstens einen kleinen Teil ihrer Angst nehmen, das würde vorerst ja schon mal reichen.
Als er sie auf ihre Wohnsituation aufmerksam machte, schienen Wasabi wirkliche Zweifel zu kommen. Was ja irgendwie auch Sinn der Sache war. Doch ehe er sein Angebot äußern konnte, kippte der Koffer samt Frau vorn über, sodass sich der Vampir ein kleines Grinsen nicht verkneifen konnte. „Alles okay?“, fragte er eher rhetorisch. Verletzt war sie schon mal nicht, zumindest gab es keine offene Wunde. Den Blutgeruch hätte seine feine Nase sonst längst gewittert. Was ihnen wenigstens einen späten Gang auf die Krankenstation ersparte. Bei der Idee der Grünhaarigen legte er leicht nachdenklich den Kopf schief, nickte aber ab und an. Eigentlich… ja, warum kam ihm dieser Gedanke noch nicht? Vermutlich, weil ihm die Info fehlte, dass sie noch keinen Abschluss hatte. Doch jetzt war es eigentlich das naheliegendste, was man in so einer Situation unternehmen konnte. „Klingt doch nicht schlecht“, ließ er ihr zunächst etwas Bestätigung zukommen. In Gedanken arbeitete er schonmal einen kleinen Plan aus, was man für so einen Wechsel alles beachten musste – zu allererst vermutlich ein Gespräch mit den höheren Positionen. Und da er sich in Anwesenheit des Heimleiters wesentlich wohler fühlte, als neben der Schulleiterin, schien dieser als erster Anlaufpunkt perfekt. „Heute wird das aber nichts mehr“, sprach er das Offensichtliche aus. Was sie allerdings nicht von ihrem Vorhaben abhalten konnte. „Wie wäre es, wenn wir Vincent damit morgen Früh direkt mal auf den Keks gehen?“, schlug er ihr vor. Ja, sie. Gemeinsam. So unsicher wie das arme Ding war, wollte er sie da ungern alleine hinschicken. Vorausgesetzt natürlich, sie ließ es zu. Er würde sich keinesfalls aufdrängen. Dennoch, bis morgen mussten sie die Zeit noch irgendwie totschlagen. Und dass sie nicht auf einer abgelegenen Matratze in einem staubigen Lagerraum schlafen sollte, war irgendwie klar. Zudem… eine Nacht mehr Gesellschaft machte nun auch nichts aus. „Wenn du nicht allein bleiben willst, ich kann dir mein Bett anbieten?“ Dass er selbst auf der Couch schlafen würde stand außer Frage. Im Vergleich zum gestrigen Abend fehlte für das Teilen des Bettes definitiv der angemessene Alkoholpegel. Was nicht heißen sollte, dass sie das jetzt noch nachholen müssen. „Komm, ich helfe dir tragen. Du bist sicher hundemüde“, vermutete er einfach mal und machte sich mit einem Teil des Gepäcks und Wasabi im Schlepptau auf den Weg in seine Wohnung.
Vollends davon überzeugt, dass keiner ihrer Vorgesetzten ihr die Hölle heiß machen würde, war Wasabi zwar erst, wenn sie mit der Kündigung in den Händen vor ihnen stand. Doch Jacobs aufmunternde Worte waren schon einmal ein Anfang, um ihr die schlimmsten Befürchtungen zu nehmen. Den Heimleiter hatte Wasabi ohnehin noch nie verärgert erlebt. Er erschien ihr wie ein Fels, an dem jegliche Negativität abprallte. Die Direktorin glich in Wasabis Kopf eher einer unvorhersehbaren Bombe, doch im Notfall wäre Vincent bestimmt in der Lage sie zu entschärfen. Da nahm sie Jacob einfach beim Wort. Der kleine Unfall blieb von Jacob nicht unkommentiert. „Mmh“, erwiderte Wasabi darauf bloß bejahend. Wäre der Koffer in ihre Richtung gekippt, hätte sie sich vielleicht gestoßen oder etwas eingeklemmt, aber so hatte sie sich höchstens ein wenig erschrocken. Etwas Empfindliches hatte sie auch nicht in ihrem Gepäck, demnach dürfte alles den Fall unbeschadet überstanden haben. Als ihre Idee bei Jacob auf Anklang stieß, formten sich ihre Lippen zu einem breiten, hoffnungsvollen Lächeln. Obwohl Wasabi nicht zwangsläufig mit Ablehnung gerechnet hatte, war sie überrascht von der raschen Zustimmung des Schwarzhaarigen. „Wirklich?“, hakte sie glücklich nach. Einen kleinen Dämpfer in ihrer Euphorie spürte sie dennoch, als Jacob das Vorhaben auf den nächsten Morgen vertagte. Es machte Sinn, schließlich war es schon spät und Vincent sicherlich nicht mehr in der Stimmung, um mit großen Neuigkeiten konfrontiert zu werden. Wasabi konnte nur hoffen, dass sie bis morgen keine kalten Füße bekam und sich statt des Neuanfangs für die gewohnte und bequeme Routine entschied. Sie konnte von Glück sprechen, dass sie Jacob eingeweiht hatte, der sich sogar freiwillig bereit erklärte mitzukommen. „Okay. Morgen früh!“, bestätigte sie nickend. Dabei machte sie sich schon Gedanken darüber, wie sie sich am nächsten Morgen frischmachen sollte. Gedanklich war sie bei dem Plan früher als die Schüler aufzustehen, um unbemerkt die Bäder nutzen zu können. Zugegeben eine ziemlich unangenehme Vorstellung, sollte sie doch jemandem über den Weg laufen. Sie wurde sowieso schon für einen Sonderling gehalten. Diesen Eindruck wollte Wasabi eher aus der Welt schaffen, statt ihn zu vertiefen, bevor sie hier als Schülerin anfing. Jacobs Vorschlag nahm sie daher mit offenen Armen und einem dankbaren Lächeln an. „Darf ich wirklich bei dir übernachten? Ich schlafe auch auf dem Sofa. Oder auf dem Boden, wenn du kein Sofa hast.“ Da war sie wirklich alles andere als wählerisch. Kein Wunder, wenn sie bereitwillig auf einem verstaubten, dünnen Futon im Lagerraum schlief. Sie lief Jacob mit ihrem Rucksack hinterher, schloss die Tür zum Lager und verstaute den Schlüssel wohl zum letzten Mal in ihrer Hosentasche. Sie konnte noch nicht ganz begreifen, dass sie hier ab morgen (wenn alles glatt lief) zur Schule gehen würde. Bestimmt hätte sie doch einen Rückzieher gemacht, hätte Jacob sie nicht zufällig entdeckt. Lächelnd betrachtete sie seinen Rücken, während sie ihm durch die Gänge folgte und gar nicht bemerkte, wie schnell sie den Wohnungsflügel erreichten.