Das Zimmer ist auf der Fensterseite mit zwei Betten an der linken und rechten Wand, den dazugehörigen Nachtkästchen und einem kleinen Regal, das von beiden Mitbewohnern benützt werden darf, ausgestattet. Auf der Türseite befinden sich zwei Schreibtische mit Lampen und ein Kleiderschrank, um die Klamotten der Schüler aufzubewahren. An besonders heissen Tagen sorgt die im Zimmer eingebaute Klimaanlage für ausreichend Abkühlung. Die kürzlich neu gestrichenen, weissen Wände lassen den Raum besonders freundlich wirken.
Auf dem Weg zum Waisenhaus musste Junko, so wie es typisch für sie war, alles kommentieren, was ihre Augen wahrnahmen. War es die Schönheit der einzelnen Bäume, oder eben die Traurigkeit, dass sie nur vereinzelt vorkamen. Doch so verhielt es sich nur auf den ersten paar Metern, nach spätestens hundert Metern bestanden Junkos Kommentare nur noch aus „boah, so viel Wald“, „wie schön, tiefblaues Meer“ und „super, keine Touristen“. Sie war den Weg vor dem Mittagessen schon einmal gegangen, da hatte sie sich jedoch mehr darauf konzentrieren müssen, sich nicht zu verirren und heile zur Cafeteria zu gelangen. Die Üppigkeit der Landschaft auf Isola war für sie zwar mit ein Beweggrund gewesen, in das Waisenhaus einzuziehen, aber so viele Flecken unberührter Natur hatte sie nicht erwartet. Einzig und allein die Stadt lockte sie nicht, und vorerst brauchte sie auch nicht dahin. Ihr Weg führte sie fürs Erste sowieso zum Waisenhaus. Dort lud Junko Memori in ihr Zimmer ein, da sie etwas Hilfe und Gesellschaft beim Auspacken gebrauchen konnte. Sie hatte zwar nichts gegen das Alleinsein und sie bevorzugte es sogar öfters als die Gesellschaft, aber das langweilige Auspacken verging doch viel schneller, wenn man zu zweit war. Als sie sich im Gang des ersten Stocks befanden, musste Junko in ihren Erinnerungen kramen. Welches Zimmer war es noch gleich? Zimmer 103 … nein … 116 … auch nicht … 386.148? Schließlich musste sie die Zimmernummer doch auf dem Schlüssel ablesen. Aha, Zimmer 113 also. Und die Namen an der Tür zu Zimmer 113 stimmten ebenfalls mit ihrem überein. Ihre Mitbewohnerin schien Velia zu heißen, wie Junko bereits bei ihrer Ankunft in Erfahrung gebracht hatte. Zu dem Zeitpunkt war das Zimmer jedoch leer gewesen, ob ihre Zimmergenossin mittlerweile anwesend war? Junko drückte die Türklinke nach unten, die Tür öffnete sich jedoch nicht. Also nicht. Weder enttäuscht noch froh darüber, versuchte Junko das Schlüsselloch mit dem Schlüssel zu treffen, und als er endlich steckte, schloss sie die Tür auf. Junkos Zimmerhälfte war ordentlich, aber leer. Ein Blick auf die nichtausgepackten Koffer verriet jedem, dass das Zimmer bis vor wenigen Stunden noch von lediglich einer Person bewohnt gewesen war. „Joa“, setzte Junko an, „das wäre also mein Zimmer.“ Sie hätte Memori ja herumgeführt, aber vermutlich bewohnte diese ein fast identisches Zimmer, und viel zu sehen gab es hier sowieso nicht. Um das zu ändern, machte sich Junko sofort an den Größten ihrer drei Koffer, in welchem sich ausschließlich Bücher und Malsachen befanden. „Interessierst du dich für Bücher?“, fragte sie Memori, während sie ein Stapel Bücher herausnahm und fürs Erste auf den Boden stellte, „Ich hab fast alles da. Philosophiebücher, Musikbücher, Romane …“
(tut mir leid ich hab schon wieder ewig gebracht *sich echt bessern will*)
Memori folgte Junko gehormsam und ebenso brav hörte sie sich deren sinnloses Geplapper über die Landschaft an. Die Halbelfe fragte sich wirklich, wie ein Mensch so viel reden konnte, ohne dass ihm der Mund austrocknete. Anfangs waren Junkos Kommentare noch recht sinnvoll, es schien als würde sie sich wirklich Gedanken über ihre Worte machen, aber mehr und mehr schien es als würde sie einfach nur reden, damit keinen Stille aufkam. Memori sollte es recht sein, auch wenn sie gedanklich nicht ganz anwesend war. Ob sie wohl die Wandfarbe in ihrem Zimmer etwas verändern durfte? Ein paar Striche hier, ein paar Punkte dort und sie konnte ein wunderbares Bild zaubern. Im Geiste zeichnete sie ein schwarz-weiß Bild mit vielen Blumen und Notenschlüsseln. Obwohl es größten Teils schwarz war, wirkte es trotzdem freundlich und offen. Hätte Memori die Hausordnung gewesen, hätte sie gewusst, dass all ihre kreativen Ideen umsonst waren, da nichts gestrichen werden durfte. Da sie dies nicht getan hatte - Regel waren meist nicht ganz ihr Fall - malte sie sich weiter ihr neues Zimmer aus. Ob wohl ihre Zimmerkollegin etwas dagegen hatte? Iwo, die würde sich einfach damit abfinden müssen. Erst als sie das Waisenhaus erreichten und Memori die Treppe erreichte verwarf sie diesen Gedanken wieder (" Ich hab überhaupt keine Wandfarben!") und hörte sich stattdessen Junkos Beschreibungen an. Kurz darauf erreichten sie das Zimmer und sie schaute sich kurz um. Es hatte ziemlich viel Ähnlichkeit mit ihrem, nur der Ausblick war anders. Memori trat ans Fenster heran und blickte hinaus in den sonnigen Tag. Ob das Wetter ihr wohl sagen wollte, was für eine Zeit auf der Schule bevor stand? Memori musste bei dem Gedanken daran etwas breiter grinsen, bevor sie sich umdrehte als Junko etwas zu ihr sagte. Sie ging zurück in die Zimmermitte und griff nach einem Buch. Memori laß nur äußerst selten, unter anderem auch weil sie fand, jedes Buch behandelte das selbe Thema. Lieber, Freundschaft, Trauer, Fantasy. Wieso sollte sie so etwas lesen, wenn sie es doch selbst erleben konnte. Sie schaute kurz auf den Roman in ihren Hand, laß sich kurz den Klappentext durch und legte das Buch zurück auf den Stapel. "Ich lese eher selten. Bücher langweilen mich, zumindest die, die es bei uns in der Bibliothek gab. Genauso wie Filme." Gab sie nachdenklich zu, während sie nach einem weiteren Buch griff. Junko konnte sie ruhig von dem Gegenteil überzeugen, vllt. hatte sie bis jetzt ja wirklich einfach die falschen Bücher gelesen. Sie strich mit dem Finger über den Einband des Buches. Es war ein Musikbuch. Sie schlug die erste Seite auf. Während sie laß bewegten sich ihre Lippen lautlos mit. Es half ihr sich den Text besser einprägen zu können, der ihr sonst innerhalb von wenigen Sekunden wieder entgleiten würden. "Spielst du ein Instrument?" Fragend schaute sie kurz von dem Musikbuch auf, und blickte zu Junko. Das Musikbuch gefiel ihr um einiges besser. Weniger Buchstabden mehr Noten. Langsam blätterte sie das Buch durch und blieb bei einigen ihr bekannten Liedern hängen. Gleich bildete sich die Meldodie dazu in ihrem Kopf, nur um dann durch eine andere, neue Melodie von einem anderen Lied ersetzt zu werden.
So langsam kam Junko aus sich heraus. Bekannte hielten sie meistens für spießig und perfektionistisch, Freunde hingegen – mal angenommen, sie hätte welche – wussten, dass sie manchmal sogar ziemlich locker sein konnte. Wie Memori wohl über Junko dachte? Vermutlich hielt sie die Nachwuchsrevolutionärin für albern, ja, aber vielleicht auch auf irgendeine Art und Weise für intelligent. Junko zumindest mochte noch keine Schlüsse über Memori ziehen. Sie hatte sie nicht beschimpft, als sich Junko über die Gesellschaft und vielleicht auch automatisch über sie beschwert hatte, sondern versucht, konstruktiv dagegen zu argumentieren. Ihre Ex-Mitschüler hätten Junko in solch einer Situation nur wüste Beschimpfungen an den Kopf geworfen. Dennoch, dass Bücher einen langweilten, das hatte Junko schon öfters von ihren lesefaulen Mitschülern gehört. Das hatte es ihr natürlich umso mehr erschwert, sich mit anderen über ihre momentane Lektüre auszutauschen. Junko sah sich mal wieder dazu verpflichtet, jemanden zu belehren. „Langweilig? Ein Buch ist so etwas wie ein Zeitträger. Dadurch, dass sich sein Inhalt nie verändert, trägt es die Geschehnisse einer vergangen Zeit mit sich und lässt sie uns wissen, ohne, dass wir dabei gewesen sind“, erklärte Junko und kramte ein hellbraunes Buch mit einer vermutlich spätmittelalterlichen Zeichnung auf dem Umschlag aus dem Koffer heraus, „nehmen wir zum Beispiel ‚Il Milione‘ auch bekannt als ‚Die Wunder der Welt‘. Es beschreibt die Beobachtungen von Marco Polo während seiner Reise über die Seidenstraße und hat bis heute kein bisschen an Bedeutung verloren.“ O.K. Das klang wohl wieder etwas spießig, aber Junko kümmerte sich nicht darum. Sie legte das Buch einfach auf den Stapel der bereits ausgepackten Bücher. Sofern es sie interessierte, konnte sich Memori ja bedienen. Interessieren schien sie sich jedoch für das Musikbuch. Ob Junko ein Instrument spielte? Apropos, das verstreute Mädchen hätte beinahe den Mandolinenkoffer, der sich zwischen den drei Reisekoffern befand, übersehen, hätte es nicht zufällig nach dem zweiten Koffer greifen wollen. Als es diesen weggenommen hatte, wurde die Sicht frei für den kleinen, edelschwarzen, wie eine Mandoline geformten Koffer, in dem sich – wer hätte es gedacht – eine Mandoline in das weiche Innenpolster eingekuschelt hatte. Nachdem Junko diesen Koffer geöffnet hatte, wäre sie beinahe sentimental geworden, doch Memoris Anwesenheit zerstörte (glücklicherweise) den innigen Moment und ihre Augen blieben trocken wie ein Busch in der Savanne. Dennoch strich sie einmal kurz über die Oberfläche der Mandoline, welche selbstverständlich aus Fichtenholz gefertigt war, und konnte nicht widerstehen, sie aus dem Koffer zu nehmen. „Darf ich vorstellen“, wandte sich Junko an Memori, die Mandoline mit einer Hand am Hals und der anderen am Boden haltend, „meine Mandoline ‚Dorle‘. Kannst du spielen oder vielleicht singen?“ Ja, sie hatte ihrer Mandoline einen Namen gegeben, und dazu noch einen oberdeutschen. Nicht zuletzt lag dies an ihrem Faible für nord- und mitteleuropäische Namen und sowieso für deren Herkunft, weshalb es ihr kaum schwer gefallen war, einen schönen, (zumindest für Japaner) fremdklingenden Namen für ihre Mandoline zu finden. Diese schien beim Anschlagen eines Akkords jedoch etwas verstimmt. Zuzuschreiben war dies vermutlich der holprigen Reise in Flugzeug, Schiff und Bus.
Memori blickte nur mit den Augen auf, als Junko ihr erklärte was genau ein Buch war. Den Kopf leicht schief gelegt blickte sie unschuldiger drein als sie es eigentlich war. Die Buchbestreibung von der Braunhaarigen war um einiges tiefgrüniger als die von Memori selbst, die in Büchern nur einen sinnlosen Zeitvertreib sah. Nach Junkos Erklärung hatte sie jedoch das Gefühl bis jetzt immer die falschen Bücher gelesen zu haben. Aber eigentlich: Was interessierte, wann dieser oder jener König gestorben war und wer sein Nachfolger war? Gut manche dieser Dingen gehörten zur Allgemeinbildung, aber trotzdem konnte sie sich diese Sachen nicht merken. in ihrem bisherigen Geschichteunterricht war sie regelmäßig eingeschlafen. Womöglich war der Stoff recht interessant, der Lehrer hatte jedoch eine so einschläfernde Stimme, dass sie öfter als gewollt Nachsitzen hatte müssen. "Ich darf im Unterricht nicht schlafen" hundert Mal auf ein Blatt Papier zu schreiben, war jedoch fast noch langweiliger wie der Geschichteunterricht selbst. Die Gegenwart basierte zwar auf der Vergangenheit, aber diese konnte man so und so nicht mehr ändern! "Ich erlebe lieber meine eigenen Geschichten." Meinte sie schließlich freundlich, jedoch bestimmt. Sie fand Junkos Meinung nicht falsch, trotzdem interessierte sie sich einfach nicht für Bücher. Junko sprach mit solch einer Überzeugung und solch Enthusiasmus in der Stimme, dass Memori kurz überlegte nach zu fragen, um was genau es noch in dem Buch ging, im nächsten Moment griff Junko jedoch noch einem Kasten, der strark nach instrumentenkasten aussah, weshalb Memori die Frage vergaß und stattdessen Junkos Bewegungen folgte. Memori konnte sich ein spöttischen grinsen nicht verkneifen, als die Braunhaarige ihr ihre Mandoline vorstellte. Ihr Instrument hatte einen Namen? Diese Mädchen war doch etwas seltsam und eigenartig. Doch das schreckte Memori nicht wirklich ab. Sie selbst fand sich auch nicht gerade normal. "Wie kommst du auf diesen Namen?" Interesiert ging sie in die Knie und lies sich schließlich neben Junko auf den Boden fallen. Im Schneiersitz wohl gemerkt. Erst nach fünf Sekunden bemerkte sie ihren fehler und leicht beschämpt setzte sie sich etwas damenhafter hin, sodass nicht jeder unter den kurzen Schuluniformruck Einblick auf ihre Unterwäsche erhaschen konnte. "Ich singe ziemlich gern." Etwas verlegen fuhr sich die Schwarzhaarige durch die Haare, bevor sie das Musikbuch wieder auf den Stapel zurück legte und nach einen weiterem Buch Buch griff. Nicht weil sie der Titel interessierte, sonden weil sie die Farbe einfach schön fand.
Die Lebensfreude in Person erlebte also lieber ihre eigenen Geschichten. Das klang zwar übertrieben optimistisch und verherrlichend, aber Junko fand, dass diese beinahe weise Lebensart zu Memori passte. Die leicht Depressive hielt sich selber jedoch zu skeptisch und vielmehr zu realistisch dafür. Oder war ihr Leben bereits zu einer Geschichte geworden, ohne dass sie es bemerkt und gewollt hatte? Eigentlich könnte ihre Vergangenheit sogar einem billigen Groschenroman der Trivialliteratur entsprungen sein. Eine Außenseiterin mit einem tragischen Schicksal und magischen Kräften auf einer neuen Schule. Oh je, hieße das sie würde in den nächsten paar Tagen die Liebe ihres Lebens finden? Junko war wieder mal zu sehr in ihren Gedanken versunken und zog angeekelt eine Grimasse, als sie sich in einer Beziehung, die auf Materialismus und Selbstbestätigung aufbaute, vorstellte. Obwohl, in der Geschichte gab es sicherlich auch Paare, die sich nicht aus Egoismus, sondern aus wahrer Liebe gefunden hatte. Dazu gab es sogar ein Beispiel aus dem eigenen Land. Yoko Ono und John Lennon. Naja, ob diese Liebe nicht doch vorgeheuchelt war, konnte wohl niemand sicher sagen. Junko wünschte es sich zumindest nicht, denn John war für sie sowohl als Musiker als auch als Person sehr inspirierend gewesen. Als ihr Kopf wie eine Jukebox plötzlich einige Passagen seiner Lieder abspielte, fühlte sich Junko ebenfalls zum Musizieren angeregt. Nun konnte man der Hobbymusikerin aus dem Gesicht, besonders aus ihrem nach oben wandernden Blick, ablesen, dass sie gerade dabei war, sich etwas auszudenken. Beinahe apathisch antwortete sie dabei auf Memoris Frage bezüglich dem Namen ihrer Mandoline: „Dorle lässt sich von dem deutschen Namen ‚Dorothea‘ ableiten. Dorothea bedeutet so viel wie ‚Geschenk Gottes‘. Ich bin weder Christin noch Buddhistin, aber irgendwie hat mir der Name und seine Bedeutung gefallen.“ Memori war nun zu Boden in den Schneidersitz gegangen. Nach wenigen Sekunden hatte sie ihre Sitzposition jedoch zu einer etwas weniger offenbarenden gewechselt. Nunja, zumindest erinnerte dieses Malheur, was eigentlich keines war, Junko daran, sich nicht selber irgendwo breitbeinig zu zeigen, was sich bei den knappen Uniformröcken sicherlich als schwierig erweisen würde. Für beschämend hielt sie diesen Vorfall jedoch nicht, schließlich war kaum etwas natürlicher als der nackte Körper eines Menschen. Was jedoch nicht bedeutete, dass Junko außerhalb der Schulzeit komplett auf Kleidung verzichtete. Dafür war es ihr noch etwas zu kühl. Mit kühlen Gesichtsausdruck fing sie nun auch an die Saiten der Mandoline zu zupfen, sodass sich eine gleichzeitig rockige und ruhige Melodie ergab. „Kannst du beim Singen denn auch improvisieren?“, fragte sie Memori und forderte sie dabei indirekt auf, doch ein paar Töne zu singen. Die Mandoline klang nicht arg verstimmt, dennoch tat sie sich schwer dabei, so harmonisch wie sonst zu klingen.
Memori musste an eine Schullektüre lesen. Anstatt das Buch zu lesen, hatte sie den Film gesehen, aber immerhin kannte sie den Inhalt. Eine der Hauppersonen hatte verzweifelte versucht Teil einer Geschichte zu werden, hatte verzweifelt versucht Geschichte zu schreiben, ohne zu bemerken eigentlich längst Teil einer Geschichte zu sein. Ironie des Schicksals, nennte man so etwas dann wohl. Wenn ihr nur der Titel des Buches einfallen würde...Aber so sehr Ori auch nachdachte, weder der Autor, noch der Name des Buches fiel ihr ein. Als Junko ihr den Namenunsprung der Mandoline erklärte musste sie schmunzeln. Diese Mädchen war schräger als sie auf den ersten Blick wirkte. Nicht einmal Memori war auf die Idee gekommen ihren Gegenständen Namen zu geben. Nun ja, das war nicht ganz richtig. In ihrem Geldbeutel fand sich ein Zettel wieder der mit den Worten: "Hallo, ich bin ein Geldbeutel und mein Name ist Luzifer. Wenn ich nicht dir gehöre, kannst du mich dann bitte zu dieser Adresse schicken?" beschrieben war. Ein ähnliches Zettel fand sich auch in ihrem Handy wieder. "Süß." Kommentierete sie Junkos Erklärung schließlich und griff erneut nach dem Musikbuch um es durchzublättern. Als Junko begann etwas auf der Mandoline zu spielen hob sie den Blick erneut und hörte einen Moment zu, bevor Junko sie fragte ob sie nicht improviesieren konnte. Ein erfreutes Lächeln stahl sich auf die Lippen der Schwarzhaarigen, während sie in ihrem Kopf nach einem passenden Text suchte. Sie hatte zwar auch selbst Lieder geschrieben, aber diese behielt sie lieber für sich. In einem kleinen Lederbüchlein hatte sie all ihre Ideen gesammelt. Jedes Lied hatte seine eigene Geschichte und alle zusammen ergaben ein Gesamtbild, dass nur Memori kannte. In melancholische Gedanken versunken hörte sie Junko eine Weile zu, bevor sie den Weg zurück in die Gegenwart fand und Luft holte. Nun gut. Die Mandoline war zwar etwas verstimmt, aber das sollte sie nicht daran hindern die passenden Töne zu finden. Die Schwarzhaarige begann schließlich ohne Text die Akkorde mitzusummen. Erst leise, dann etwas lauter. Während sie summte schlich sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Fragend schaute sie Junko an. Würde sie mitsingen?
Junkos rechte Hand bewegte sich auf den Saiten auf und ab. Der Klang der verstimmten Mandoline, ließ sie in eine andere Zeit zurückversetzen. In vergangene Jahre, als sie das Instrument die ersten Male in den Händen gehalten hatte. Der alte Mann, dem sie es damals auf dem Flohmarkt abgekauft hatte, hatte faltige, knochige Hände gehabt. Vermutlich hatte er mit dem Verlust der Feinmotorik in seinen Händen, auch die Fähigkeit, Mandoline zu spielen, verloren. Wie alt war Junko zu der Zeit gewesen? Acht oder neun Jahre? Ohne Frage ziemlich jung, denn ihr hatte jegliche Erfahrung mit Musikinstrumenten gefehlt, um die Mandoline alleine zu stimmen, weshalb der Kleinen wohl oder übel – sie nahm nur ungern die Hilfe anderer in Anspruch – ihr Vater, welcher in seiner wilden Jugend ein begeisterter Gitarrenspieler gewesen war, unter die Ärmchen greifen hatte müssen. In den Anfangszeiten ihres Mandolinespiels hatte Junko noch munter, so munter, dass es beinahe aggressiv gewirkt hatte, in die Saiten der verstimmten Mandoline geschlagen. Es hatte sich zwar nie nach etwas Musikalischem angehört, aber irgendwie hatte es wie ein abstraktes Gemälde, das zu Tönen geworden war, gewirkt. Gegenwärtig klang es nun weniger nach abstrakter Kunst, dafür umso kontrollierter, und die Saiten wurden gezupft anstatt geschlagen. Es untermalte Memoris Gesangsstimme, die immer mehr an Lautstärke zunahm. Zugegebenermaßen hätte Junko solch ein Gesangstalent von einer scheinbar Gleichaltrigen nie erwartet, denn sie selbst klang vom Gesang her mehr wie ein brüllendes Walross als wie ein zwitschernder Vogel. Nicht dass Walrossrufe eine Grausamkeit für das menschliche Ohr waren, nur für den Gesang waren sich nicht optimal geeignet. „Ich bin überrascht. Das war wirklich gut“, gab Junko ehrlich zu, nachdem sie das improvisierte Musikstück mit einigen langsamen, tiefen Tönen beendet hatte, „wo hast du so Singen gelernt?“ Weil Junko beim Mandolinespielen öfters mal den Kopf senken hatten musste, um sich nicht zu vergreifen, war die Uniformmasche, die sie immer noch um den Kopf trug, verrutscht. Penibel richtete die Ästhetin sie. Nun war sie wieder bildschön. Nicht. Menschen waren nie schön, höchstens hübsch, und das war’s. Das einzig schöne, was der Mensch schaffen konnte, waren die Künste. Die wahre Schönheit lag jedoch ausschließlich in der Natur, fand Junko. „Musik ist so etwas Schönes.“, sagte sie trotz dessen, vielleicht mehr zu sich als zu Memori. Schließlich machte sie sich erneut ans Auspacken. Während sie die anderen beiden Koffer leerräumte und seinen Inhalt in Schränke wieder einräumte, zeigte sie Memori einige ihrer liebsten Besitztürmer, wozu Kleidungsstücker weniger zählten, mehr jedoch Antiquitäten in Form von Behältern, kleinen Statuen und Schmuck. „Ich bräuchte dringend etwas Schlaf. Die Anreise war echt anstrengend.“, stieß sie dann gähnend aus und ließ sich das erste Mal auf das Bett, in welchem sie von nun an viele Stunden ihres Lebens verbringen würde, fallen. Weich fühlte es sich an, so wie Betten nun mal waren. Am liebsten hätte sie jetzt einfach die Augen geschlossen und geschlafen, bis sie irgendwann ganz ohne den Einfluss eines nervtötenden Weckers wieder aufgewacht wäre.
Die ohnehin schnell zufriedene Memori durchströmte kurz ein Gefühl des Glücks. Sie liebte Musik, und egal wie oft sie im Leben schon gesungen hatte, fühlte es sich jedes Mal aufs Neue wunderbar an. Das hier war jedoch etwas anderes. Es war einer dieser Momente, in denen einfach alles in Ordnung war, in denen man zufrieden war mit sich und der Welt, ohne einen wirklich Grund zu haben. Memori hatte dieses Gefühl wahrscheinlich öfter als andere Menschen, es war jedoch nicht weniger schön. Dieser Moment, wenn es draußen regnete und man sich in den Regen stellte um die Hitze des Tages zu vertreiben. Dieser Moment, wenn man nach einem anstrengenden Tag ins Bett fiel und froh war nun endlich seine Ruhe zu haben. Dieser Moment, wenn man mit den richtigen Menschen in einem Auto saß und die passende Lied lief. Dieser Moment vollkommener Zufriedenheit und innerem Frieden. Als die letten Töne verstummten und Memori zufrieden den Mund schloss, lächelte sie einen Moment nachdenklich vor sich hin. Ihr Lächeln wurde noch breiter, als Junko ihr ein Kompliment machte. "Danke!" Sagt sie erfreut und fühlte sich fast verpflichtet Junko ein Kompliment zu erwiedern. "Mit der richtigen Begleitung klingt fast alles gut." Meinte sie deshalb. "Wahrscheinlich liegt es mir einfach im Blut. Laut meiner Tante sang meine Mutter für ihr Leben gerne. Den ganzen Tag über summte sie ein Lied vor sich hin." Memori hatte keinerlei Erinnerung an ihre Eltern. Doch die Geschichter ihrer glücklichen, summenden Mutter war ihr so oft erzählt worden, dass sie das Gefühl hatte wirklich selbst dabeigewesen zu sein. "In Spanien hatte ich Gesangsunterricht. Aber die meiste Zeit singe ich einfach so vor mich hin. Es beruhigt mich irgendwie. " Leicht verlegen lächelte sie. Als sich Junko die rote Masche auf ihrem Kopf wieder zurecht richtete, konnte Memori nicht umher sie etwas skeptisch anzusehen. Wieso genau tat sie das? Um sich selbst etwas zu beweisen, um ihr etwas zu beweisen oder weil sie einfach rebelisch sein wollte? Memori hielt sich auch nicht immer an alle Regeln, aber hierbei schien es um etwas anderes zu gehen. Geduldig schaute sich Memori die verschiedenen Gegenstände an und fragte ab und zu interessiert nach, was genau diese oder jene Statue darstellen sollte. Mit der Zeit viel es ihr jedoch immer schwerer sich die Geschichten zu merken, und schließlich war sie froh als Junko fertig war und meinte sie wäre müde. Ein Wink mit dem Zaunpfahl. Wahrscheinlich sollte sie wirklich zurück ins Zimmer. Auch sie musste noch auspacken. Das würde sicherlich seine Zeit dauern, auch wenn Memori sicherlich nicht so genau vorgehen würde. Außerdem wollte sie das Gelände noch etwas erkunden und ein paar Fotos machen, um diese dann ihren Freunden zu schicken. Da fiel ihr wieder ein, dass sie ihre Tasche im Zimmer vergessen hatte. Vllt. hatte ihr ja jemand geschrieben oder ihre Oma angerufen. Es war wirklich höchste Zeit auf das Zimmer zurück zu gehen. Inzwischen war es schon nach drei. Obwohl das Mittagessen erst kurze Zeit zurück lag, verspürte Memori den Drang nach etwas Essbarem. Einen Snackautomaten würde sie also auch suchen gehen müssen. "Dann will ich dich nicht weiter stören:" Die Schwarzhaarige stand auf und richtete sich ihre leicht verknitterte Uniform zurecht. Dann fuhr sie sich einmal zur Auflockerung durch das Haar, bevor sie Junko zum Abschied kurz zulächelte. "Schlaf gut. Man sieht sich sicher mal." Sie hob kurz die Hand und verließ anschließend das Zimmer.
Memoris Gesangstalent war also genetisch veranlagt. Das konnte gut sein, denn dass sowohl Mutter als auch Tochter gerne und gut sang, war sicherlich mehr als nur einfacher Zufall. Ob vererbtes oder antrainiertes Talent, Junko war egal, woher und wieso jemand etwas gut konnte, solange er sein Können vernünftig einsetzte und sich nichts darauf einbildete. Ein Dachdecker hielt sich entgegen der Tatsache, dass jeder auf seine Arbeit angewiesen war, da niemand ohne ein Dach über den Kopf leben konnte, schließlich auch nicht für etwas Besseres. Anders war es bei Prominenten, die stets eine Sonderbehandlung und einen extravaganten Lebensstandard beanspruchten, aber wehe es wurde zu viel Aufmerksamkeit, dann beschimpften sie die Paparazzi, sie sollen ihre Privatsphäre doch nicht verletzen. Was ihnen nicht passte, musste sofort geändert werden, auch wenn die Paparazzi und die Leser der Magazine, in denen ihre Fotos und Storys veröffentlicht wurden, einer der Gründe waren, weshalb diese Prominenten überhaupt prominent waren. Im Gegensatz dazu standen die Talentierten, die nicht auf Kommerz, sondern auf einen anderen, viel edleren Aspekt aus waren. Memori konnte vielleicht eine von ihnen sein. Zumindest hatte Junko mit ihr eine positive Bekanntschaft geschlossen. Sie kam der Erfüllung des letzten Wunsches ihrer Eltern langsam, aber sicher immer näher, und das nur, indem sie sich mit ihrer Art, ständig alles kritisch zu beleuchten und zu kommentieren, ein wenig zurückgehalten hatte. Ob ihr diese Methode selber gefiel oder nicht, dass sei erst mal dahingestellt, denn in erster Linie ging es darum, wenigstens diese Kleinigkeit bei ihren Eltern wieder gutzumachen, und, ohne sich darüber bewusst zu sein, hatte ihr Memori etwas dabei geholfen. Nachdem diese mit einer Verabschiedung das Zimmer verlassen hatte – Junko hatte gerade mal genug Kraft gehabt, um die Hand zu heben – zerrte sich die Erschöpfte die Schuluniform samt Masche von Leib und Kopf und warf sie neben sich auf den Boden. Ohne sich einen Schlafanzug überzuziehen, demnach in Unterwäsche, so wie sie es an warmen Sommertagen immer tat, zog sie die Decke über sich und legte ihr Gesicht auf das Kissen. Ja, Junko schlief auf dem Bauch, nur so fühlte sie sich isoliert genug, um loszulassen sich in einen tiefes schwarzes Loch, auch „Schlaf“ genannt, fallen zu lassen.
Gerede. Leute redeten, am liebsten über sich selbst oder über etwas, an dem sie sich aufgeilen konnten. Auch in diesem Moment konnte Junko Beschwerden über die stechenden Sonnenstrahlen, Präsentationen der neusten Einkäufe und Trennungsgerüchte über Person x und Person y wahrnehmen. „Ernsthaft? Um diese Uhrzeit?“, brummte sie ins Kissen und fühlte sich wie gerädert, als sie ihren halbnackten Oberkörper aufrichtete. Solches Gerede war ja tagsüber kaum zu ertragen, aber mitten in der Nacht erreichte dies schnell ein neues Maß an Rücksichtslosigkeit. Ein Blick auf den Wecker verriet Junko jedoch, dass sie nichtmals zehn Minuten geschlafen hatte und es demnach immer noch verdammter Tag war, was die weckende Geräuschkulisse natürlich ein wenig rechtfertigte. Trotzdem, für zehn Minuten Schlaf hatte sie Memori nicht abserviert, und die aus dem Tiefschlaf geweckte hätte wohl, wäre sie leichter zu reizen, das Fenster aufgerissen und die Leute angebrüllt, dass sie mit dem dämlichen Klimawandel, den sie durch ihren gierigen und faulen Lebensstil – das Motto des modernen Menschen lautete „Mehr für weniger Arbeit“ – verursacht hatten, an dieser Hitze selber Schuld seien. Das einzige, was Junko davon abhielt, war ihre Gelassenheit und ihr trockener Hals. Obwohl sie sich darüber bewusst war, wie wichtig und gesund Trinken war, hatte sie zum deftigen Mittagessen komplett auf ein Getränk verzichtet – wusste der Teufel, wieso. Die leeren Wasserflaschen in ihrer Tasche brachten sie schließlich zu dem Entschluss, dass sie irgendetwas unternehmen musste, auch wenn es letztendlich nichts mit Trinken zu tun hätte. Wie eine Untote stand sie also auf, löste ihren Pferdeschwanz, der nun nicht mehr wie ein Pferdeschwanz aussah, und machte daraus zwei Zöpfe. Aus ein mach zwei. Das war Zauberei, ebenso wie das Ober- und Unterteil in Einem, also der grünweißgemusterte Overall, in den sie nun schlüpfte. Es waren diesmal keine weiteren zehn Minuten vergangen, da stand Junko bereits vor der abgeschlossenen Zimmertür und machte sich auf in Richtung … ja, wohin eigentlich?
Seit gut zehn Tagen war sie nun auf der Oberfläche die sich Land bezeichnete. Die ersten fünf Tage verbrachte sie mit ihrem Lehrer ihres Vaters, der lange schon bei den Menschen lebte, damit sie auf eine Art Schnellkurs lernte wie sie sich zu benehmen hatte. Zuanfangs schwirrte ihr der Kopf so heftig das ihr schwindlig wurde. Sie musste sich erst daran gewöhnen auf zwei Beinen zu gehen, aber mittlerweile hatte sie es im Griff. Und als sie bereit war kam sie hierher worauf hin man sie in der Schule unterwies und sie herumführte. Schlußendlich zeigte man ihr das Zimmer wo sie wohnen würde. Der Schlüssel lag nun in ihrer Hand, als sie beschloß ihn hinein zu stecken. Klack.. Die Türe ging langsam auf, als ihre Augen sich umblickten. Augenscheinlich war das Zimmer für zwei Personen gedacht, wobei schon eine hier leben musste. Schlagartig bekam sie eine Gänsehaut. Woher rührte das? Das passierte eigentlich nur wenn ihr Körper sie auf ihre Schwäche hinwies. Das wiederum konnte nur bedeuten... Hier lebte also ein Vampir oder ein Werwolf. Die Rothaarige musste tief druchatmen. Anscheinend wollte man das sie ihre Schwäche zu einer Stärke machte. Das einzige worauf sie jetzt hoffen konnte war, das sie sich mit ihrer Zimmergenossin gut verstehen würde. Zögernd schob sie ihren Koffer zu dem leeren Bett, das nun ihres sein sollte und begann ihre Klamotten aus zu räumen. Sie legte sie zuerst auf die Matratze ordentlich auf, schlnederte zum Kasten und legte sie dort ordentlich hinein. Dann kamen ihre kleinen Utensilien, wie ein Foto von ihrer Familie, Notziblöckchen und einem kleinen Nachtlämpchen was ihre kleine Schwester mitgegeben hatte. Auf ihren Lippen erschien ein Lächeln. sie vermisste ihre Familie jetzt schon, aber es war ihr Wunsch gewesen und nun musste sie ihrem Vater beweisen, das die Wesen an der Oberfläche nicht so schlecht waren wie er behauptete. Schnurstracks schlüpfte sie in ihre Schuluniform und betrachtete sich dabei im Spiegel. Es war ein ungewohnter Anblick. Das machte sie nervös. Aber wie auch immer, davon würde sie sich nicht unter buttern lassen. "Na dann wollen wir mal" Sie fuhr sich durch ihr rubinrotes Haar, zwinkerte sich selbst zur Ermunterung zu, nahm den Schlüssel in die Hand und schloß wieder ab. Ihr Herz begann zu klopfen. Sie wollte ersteinmal selbst die Gegend erkunden und Andere mal auf Schnupperkurs kennen lernen.