In einer Gasse am Rande des Einkaufsviertels führt eine unscheinbare Tür ins älteste - und vermutlich einzige - Gym auf Isola. Sein Alter sieht man ihm überall an. Zwar gibt es viele Fitnessgeräte und sogar verschiedene, doch können sie bei weitem nicht mit dem modernen Kram der Fitnessstudios auf dem Festland mithalten. Dafür werden sie regelmäßig gepflegt und sind selbst nach Jahrzehnten immer noch top in Schuss. Das Gym profitiert von einem nostalgischen Fight-Club-Flair, welcher nicht zuletzt durch den alten Boxring im Herzen der Räumlichkeit untermauert wird. Es heißt, der Besitzer des Gyms - Meister Roshi - war vor vielen Jahrzehnten asiatischer Boxmeister. Nach seiner aktiven Karriere zog er sich in seine Heimat nach Isola zurück. Seitdem hilft der graubärtige Mann der sportswütigen Inselbevölkerung dabei, fitter zu werden oder unterrichtet sogar ein wenig in Kampfsportarten. Sein individueller und gewöhnungsbedürftiger Charme rundet die Atmosphäre im Gym schlussendlich ab.
Für einen kleinen Moment in diesem „Gespräch“, falls man das überhaupt so nennen konnte, war Cynthia wirklich kurz davor dem Typen gleich hier eine reinzuhauen. Verdient hatte er es bei seiner stumpfen Reaktion einfach. Wie konnte man nur so hart unter einem Stein leben? Und offensichtlich regte sie das auf, sonst würde sie ihm ja nicht so auf die Pelle rücken. Obwohl sie gerade nicht wusste, ob sie lachen oder weinen sollte. Sie verstand sowieso nicht, warum man deswegen eben keinen Aufriss machen sollte. Das war ihre Abstammung, also sah sie es als absolut angebracht an diese auch in einem ihr würdigen Verhältnis zu verteidigen. Wer einmal auf sich trampeln lässt, der ließ immer auf sich trampeln - so einfach war die Welt. Aber sie würde einen scheiß tun und jetzt kleinlaut eine Antwort darauf geben. Stattdessen verschränkte sie nur die Arme und starrte den Hünen an, als wäre er irgendeine Anomalie in ihrem Wahrnehmungsraster. Was nen komischer Typ. Wozu hatte man so eine Erscheinung, wenn man sich dann am Ende sowieso bei jeder Auseinandersetzung zurückzog? Da hatte wohl jemand sein Selbstbewusstsein aus dem Fenster geworfen und nicht mehr wiedergefunden. Seine folgenden Worte sollten untermauerten diesen Eindruck perfekt. Da war echt Hopfen und Malz verloren. „Tch! Leck mich.“, kommentierte sie seine Entschuldigung und hatte das Thema für sich selbst damit abgehakt. Er war zusammengebrochen wie ein instabiles Kartenhaus, da war nicht mehr zu holen. Ein rückgratloser und zurückgezogener Welpe. Wenn er Ecken und Kanten hatte, musste er die wohl vor langer Zeit im Geometrie-Unterricht verloren haben; oder wo auch immer. Konnte ihr ehrlich gesagt schnuppe sein. Also gab’s hier auch nichts mehr zu tun. Wie vorhin versuchte sich Cynthia also abzuwenden und den Typen seinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen, nachdem er schon so galant eingeknickt war. Nur irgendwie … war das wohl nicht sein Plan gewesen. Eher im Gegenteil, wie sich nur wenige Augenblicke später offenbarte. Erneut erstarrte die Löwin in ihrer Bewegung und drehte sich wieder zu ihm herum. Dieses Mal aber anders – wenn auch ungebrochen aggressiv. Ihr Schwanz hatte sich nämlich mittlerweile wieder abgesenkt. Nur noch ihre Ohren verblieben aufgerichtet und in seine Richtung gespitzt. Als würde sie immer noch darauf warten, dass er sein Argument noch einmal widerrufen würde. „Look who’s talking.“, entgegnete sie fast schon trotzig auf seine Aussage und schnaubte einmal verachtend. Ihr Blick drehte sich kurz zu dem alten Sack, der nun ebenfalls auf ihrem Radar erschienen war. Solange der aber die Klappe hielt, brauchte sie sich auch nicht mit ihm auseinandersetzen. Sie hatte nicht vor in dem Laden nen Hausverbot auf Lebenszeit zu kassieren. „Mach ich in dem Moment, wo du deine Eier wiedergefunden hast.“, beendete sie ihre Aussage und drehte sich am Ende wieder um. Erneut mit ihrem Blick auf dem alten Knacker hängenbleibend. Sie brauchte nicht zu wissen, was er dachte. Seine komische Rentner-Lauerstellung reichte vollkommen als Ausdruck seiner Intentionen. Fehlte nur noch ein Krückstock, mit dem er ihr im Notfall den Hintern versohlen wollte, als wäre sie irgendeine ungezogene Göre. „Sag ich ja, Poser.“, schloss sie für sich ab und dann ging es für sie endgültig zurück zum Boxsack, um ihn mit tristen und starken Schlägen zu bearbeiten. Reichte schon das morgen die Schule wieder losging und sie sich deswegen heute Abend nicht die Kante geben konnte. Was angesichts der Lage irgendwie angebracht wäre. Immerhin gab es da noch eine Sache, über die sie keineswegs Klarheit hatte. Was für ne verfickte Scheiße, eh. Zu ihrem Bedauern konnte sie sich darüber bei niemandem auskotzen. Es gab eben auch Dinge, die sie nicht einfach in die Welt hinaustrug. Dieses Mal sogar aus recht erwachsenen Gründen. Naja, wen kümmerte es im Moment. Musste halt der Sack weiterhin dran glauben …
"Man widerspricht oft einer Meinung, während uns eigentlich nur der Ton, mit dem sie vorgetragen wurde, unsympathisch ist." - Friedrich Nietzsche
Zugegeben - und das war auch nicht erst an dem Tag aufgefallen: Liam war nicht gerade ein Profi in Sachen Deeskalation und Beschwichtigung. Selbst wenn es nie seine Intention war, andere zu provozieren oder Streit vom Zaun zu brechen, so tat er es scheinbar trotzdem viel zu häufig. Wer auf seine Zunge nicht achtete, der stach mit dieser schnell in ein Wespennest. Genauso musste es Liam auch an diesem Tag wieder fabrizieren, als er erneut dafür sorgte, dass das Mädel nicht einfach ging, sondern sich zu ihm umdrehte. Wieder warf sie ihm verbalen Mist entgegen. Doch was Liam mittlerweile immer deutlicher auffiel: Sie stieß nur heiße Luft aus. Dagegen war er es gewohnt, nicht nur von der Seite angemacht, sondern auch angeschlagen zu werden. Das meiste Straßengesindel in seiner Vergangenheit kündigte die Auseinandersetzung nicht nur an, es zog diese auch durch - mit Fäusten und Füßen. Von wegen Löwin also, musste sich Liam denken. Kratzte nur durch die Luft und schien Schiss davor zu haben, mal wirklich zuzulangen. Das sorgte dafür, dass Liam zunehmend weniger Respekt und Achtung empfand. Sie wirkte wie ein kleiner Hund, der kläffte, aber sofort hinter seine Deckung rannte, wenn man sich näherte. Von dort wurde dann weitergekläfft. Unvorstellbar für Liam, dass sie ihn wirklich im Ring bekämpfen wollte. Vielleicht war es der Sportsinn gewesen, der sie dazu getrieben hatte. Einen Kampf aus persönlichen Gründen zog sie jedenfalls nicht durch; und wie jemand mit sehr viel Contenance hatte sie bisher auch nicht gewirkt. Na ja …
Wie üblich prallten Beleidigungen und Spitzen an ihm ab. So hätte ihn auch bis auf Pfützenhöhe erniedrigen können, es hätte ihn nicht gestört. Der eigene Stolz war eben nur der eigene und konnte nur von einem selbst beeinflusst werden. Zudem sah es Liam nicht als erniedrigend an, wenn er in der Lage war, sich gegen Schikanen zu bewehren. Als das Mädel dann endlich wirklich abgedampft war und Liam nicht mehr ungewollt ihre Rückkehr verschuldete, konnte er sich wieder seiner eigentlich Anwesenheitsbegründung zuwenden: Workout. Zurück auf seiner Matte atmete er ein paar Mal tief durch. Seine Gedanken mussten von der nervigen Katze befreit werden und sich auf das konzentrieren, was nun vor ihm lag. Nach kurzer Einstimmungsphase begann er schließlich mit seinen Übungen. Nacheinander wurden die Sets absolviert. Immer mehr Schweiß rann ihm über den Körper und immer länger schienen die Intervalle, obwohl sie am Ende sogar kürzer wurden. Frust machte sich in ihm breit, welcher eine neue Ladung Adrenalin freisetzten. Mit diesem Treibstoff im Gepäck erhöhte er nochmal die Intensität.
Irgendwann war es dann aber wirklich genug und Liam ließ sich auf seinen feuchten Hosenboden sinken. Die heiße Luft musste raus und der Adrenalinpegel durfte gesenkt werden. Langsam aber stetig beruhigte er sich, wischte sich dabei den Schweiß von der Stirn. Eine Dusche musste nun her, das war klar; und die würde er sich zurück im Wohnheim gönnen. Also packte er seine Sachen wieder zusammen, räumte die benutzten Geräte zurück und verabschiedete sich von dem alten Knacker.