Ivy war eigentlich in der Bibliothek gewesen, um ein wenig für den Unterricht zu lernen, doch plötzlich hatte sie ein Buch gefunden, indem von einer Legende die rede war. Erst dachte sie sich, dass Legenden doch sowieso nur blödes Gerede waren, doch dann erkannte sie die Stelle. Die war ja direkt in der Nähe gewesen! Einen Moment lang zögerte sie, aber dann beschloss Ivy einfach mal raus zu gehen. Sie liebte sowieso die Natur und sie hatte nun lange genug in der ruhigen langweiligen Bibliothek rumgehangen. Selbst wenn sie keine Spuren von der Legende finden würde, war es immer noch ein schöner Ort in der Natur.
Sie machte sich also auf und nach einer Weile war sie bereits da. Überwältigt von den großen Steinruinen staunte sie erst einmal nicht schlecht. Wunderschön! Langsam sog sie die frische Luft ein und ging dann ein wenig um die Ruinen herum. Plötzlich bemerkte sie etwas im Augenwinkel und sie stockte. Hallo? Ist da wer? fragte sie nun doch ein wenig ängstlich. So ganz alleine fühlte sie sich dann plötzlich doch nicht mehr so sicher. Wieder war da etwas in ihrem Augenwinkel! Schnell drehte sie den Kopf und sah etwas hinter der nächsten Wand verschwinden. OK! Das wars! Sie würde ganz schnell die Biege machen! Ein wenig panisch drehte sie sich um und lief schnell den Weg wieder heraus.
Ivy musste schmunzeln. Mike hatte wohl nicht sonderlich große Lust, dass man ihn für einen Künstler oder einen Hobbyfotografen halten würde, was nach ihrer Meinung nach ja totaler Quatsch war. Schließlich war er wirklich gut in dem was er machte und sollte das ruhig offen zeigen! Nicht jeder konnte so schöne Fotos machen. Ach was, das wird sicherlich deutlich besser als eine billige 3! Sie grinste ihn fröhlich an. Ich kann Kunst erkennen, wenn ich sie sehe. Damit streckte sie ihm die Zunge raus.
Ivy hatte wirklich gar keine Intention Mike zu verarschen oder Sonstiges. Sie hatte dieses Licht gesehen und nun, da Mike es ja auch auf dem Foto selbst gesehen hatte, kam sie sich nicht mehr ganz so bescheuert rüber, wenn sie davon erzählen wollte. Ich verarsch dich wirklich nicht. Sagte sie ernst und lief etwas zögerlicher hinter ihm her. Sei vorsichtig. sagte sie wieder ein wenig ängstlich und drückte seine Hand etwas fester zusammen. Was würde wohl hinter der Wand auf sie warten? Ein Monster? Ein Geist? Vielleicht wäre es ja sogar ein freundliches Wesen gewesen? Oder die Legende stimmte wirklich!!
Bevor sie hinter die Wand schauen konnte, kam ihnen ein kleines Licht entgegen. Es schien sich wohl nicht mehr länger verstecken zu wollen. Wow ist das schön! Gab Ivy nur von sich und wirkte nun deutlich entspannter. Dieses Wesen hatte eine beruhigende Ausstrahlung und sah nun gar nicht mehr gefährlich oder bedrohlich aus. Aber was ist es? fragte sie verwirrt.
Wären die Fotos wirklich für ein Schulprojekt, könnte Mike mit ihnen wahrscheinlich tatsächlich eine bessere Note, als eine mittelmäßige Drei, rausschlagen. Nicht, dass den Werwolf Noten sonderlich juckten, aber eine schlechte Bewertung in Kunst — speziell in der Fotografie — käme für ihn einem Schlag ins Gesicht gleich. „Wenn du das sagst, du Kunstkennerin“, erwiderte er belustigt. Einen spöttischen Unterton verkniff er sich an dieser Stelle mal.
Als sie dem Geheimnis hinter der Mauer auf den Grund gehen wollten, schlug die Stimmung wieder etwas um. Zumindest bei Ivy. Er merkte es daran, dass sie seine Hand fester drückte und ein wenig ängstlich klang. Mike hatte weder Angst im Dunkeln, noch Furcht vor irgendwelchen Geistern, was nicht bedeutete, dass ihn eine Begegnung mit einer Erscheinung kalt lassen würde. Aber ihm schlotterten gerade eben nicht die Knie, weshalb er Ivys Hand ebenfalls einmal fester drückte, in der Hoffnung sie dadurch zu beruhigen. „Alles gut“, nuschelte er, als Ivy ihm riet vorsichtig zu sein. Was sollte da schon so furchterregendes lauern? Außerdem konnte er das Gefühl, dass sie ihm nur einen Streich spielte, nicht ganz abschütteln. Skeptisch (und fast schon in der Erwartung von Ivy erschreckt zu werden) warf Mike ihr einen schnellen Schulterblick zu.
Als er sich wieder umdrehte, tänzelte ein kleines Lichtlein vor seiner Nase herum und drehte einige kleine Kreise, bevor es anhielt und mehr oder weniger ruhig vor ihnen schwebte. „Woah—“ Mit zusammengeschobenen Augenbrauen wich Mike ein, zwei Schritte zurück und ließ dabei auch Ivys Hand wieder los. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit einer … Fee? Jedenfalls kam ihm die zierliche Gestalt aus den Rassekunde-Lehrbüchern vage bekannt vor. „Kann’s sein, dass das ‘ne Fee ist oder so? Ich hab noch nie eine in echt gesehen“, schlug er vorsichtig vor und streckte einen Finger aus, um das Wesen zu berühren. Blitzschnell schlug die Fee einen Looping, um seiner neugierigen Geste auszuweichen. „Is‘ ja gut…“, murmelte er beinahe etwas beleidigt, wegen dem Korb. Obwohl er den Blick eigentlich gar nicht abwenden wollte, aus Nervosität die Fee könnte sofort wieder verschwinden, wandte er sich Ivy zu. „Also, ich hab im Internet ‘n bisschen über die Ruine gelesen, bevor ich hergekommen bin. Da stand was von ‘ner Legende und ‘ner Fee, die Wünsche erfüllt, aber ich dachte das wär Bullshit.“ Glauben tat er daran immer noch nicht. Immerhin könnte dieses kleine, leuchtende Wesen auch eine Illusion oder eine stinknormale Fee, ohne wünscheerfüllende Zauberkräfte sein. Vorsichtig kramte Mikhail seine Kamera heraus, während er auf Ivys Einschätzung wartete.
Ivy war wirklich froh, dass sie nicht alleine war. In dem Moment realisierte sie selber gar nicht richtig, dass sie nach Mikes Hand gegriffen hatte und er sie nun zurückdrückte, sodass sie sich deutlich besser und ruhiger gefühlt hatte. Sie hatte in dem Moment einfach schnell aus Angst gehandelt und es selber nicht wirklich mitbekommen.
Nun schien aber das Licht näher zu kommen und Mike hatte Recht gehabt. Es war eine Fee! Dann hatte ich doch richtig gelesen! stieß sie vor Freude aus und machte einen kleinen Hüpfer. Die Legende ist wahr! Sie drehte sich zu Mike um und wurde ein wenig rot, da sie nun erst bemerkt hatte, nachdem Mike ihre Hand losgelassen hatte, dass sie überhaupt Händchen gehalten hatten.
Dann wurde ihr klar, dass sie sich gerade verplappert hatte und es nun doch so aussah, als wäre sie wegen der Legende hier gewesen, was ja eigentlich stimmte. Ein wenig verlegen spielte sie sich am Haar und sagte leise. Ach ja das hab ich auch zufällig gelesen. Sie räusperte sich und drehte sich dann zu der Fee um. Hallo du! Kannst du Wünsche erfüllen? fragte sie vorsichtig und streckte ebenfalls einen Finger aus, um die kleine Fee zu berühren, doch genauso wie bei Mike, machte sie einen Looping um eine Berührung abzuwehren. Schnell ging Ivy einen Schritt zurück. Oh äh tut mir leid, sagte sie nur leise und schaute dann Mike an. Was sollten sie denn jetzt mit diesem magischem Wesen machen?
Der kleine Freudenausbruch der Blauhaarigen überraschte Mike, sodass ihm ihre erröteten Wangen an dieser Stelle überhaupt nicht auffielen. In sich hinein grinsend heftete er die Augen auf die leuchtende Fee, ließ den Blick dann jedoch zu seiner Begleitung schwenken, als diese meinte die Legende wäre wahr. Also nahm Ivy die Erzählung für bare Münze? War sie vielleicht in Wahrheit deswegen hergekommen? Da sie ihn auch nicht wegen seines angeblichen Kunstprojekts ausgefragt hatte, nahm Mike das Mädchen nicht wegen der Legende in die Mangel. Ihm würden zwar einige Sprüche einfallen, um Ivy zu ärgern, doch fand er die Fee gerade eine Spur interessanter, als die Aussicht Ivy in Verlegenheit zu bringen. Berührungen schien die Fee strikt abzulehnen. Kein Wunder, denn ihre Flügel und ihr gesamter zierlicher Körper wirkten sehr zerbrechlich. „Glaubst du denn daran? Also, an die ganze Sache mit den Wünschen“, fragte er an Ivy gewandt. Die Existenz von magischen Wesen war eine Sache, aber eine zufällige Begegnung mit einer wunscherfüllenden Fee war etwas anderes. Es klang zu schön, um wahr zu sein. Dass die Fee scheinbar nicht der menschlichen Sprache mächtig war, machte die ganze Angelegenheit noch komplizierter. Ivys ratloser Blick entging dem Werwolf nicht, doch mehr als ein Schulterzucken und ein ebenso fragendes Gesicht konnte er nicht hervorbringen. „Mmh … wir können sie ja mal auf die Probe stellen. Schauen, ob an dem Märchen was dran ist“, schlug er vor und augenblicklich wandelte sich sein Mund zu einem verspielten Grinsen. Eigentlich hieß es ja Ladies First, doch er war derjenige, der das Leuchten auf seinem Foto entdeckt hatte, also nahm Mike sich die Freiheit den ersten Wunsch zu äußern. „Ich wünsch mir—“Meinen Bruder zurück. Aber das konnte er unmöglich sagen. „Dass ich sofort zehn Zentimeter wachse und größere Muckis hab!“ Grinsend verschränkte er die Arme vor der Brust und schaute die Fee herausfordernd an. Ob tatsächlich etwas passieren und ihm innerhalb der nächsten paar Sekunden seine Kleidung zu eng werden würde?
Die beiden schienen ein wenig überfordert mit der Situation zu sein. Wer konnte auch schon von sich behaupten, eine magische Fee getroffen zu haben? Ivy atmete tief ein. Sie war hier gewesen, hatte gehofft, dass die Legende war sei, nur um einen Wunsch zu äußern. Allerdings war sie nun nicht mehr allein und der Wunsch brachte sie in Verlegenheit. Doch während Ivy sich noch fleißig überlegte, wie sie das mit ihrem Wunsch anstellen sollte, machte Mike wieder nur Unsinn und wünschte sich etwas total lächerliches. Dennoch grinste Ivy amüsiert und schaute auf die Fee. Diese schaute Mike ein wenig fragend an, sollte das auch wirklich ein richtiger Wunsch gewesen sein? Vielleicht sollten wir die Kräfte der süßen Fee nicht für so einen Unsinn missbrauchen. Sagte Ivy und lächelte die Fee an. Deine Größe ist super und mehr Muckis brauchst du auch nicht unbedingt. sagte Ivy an Mike und meinte es als Kompliment. Ein wenig zögerte sie, doch dann sprach sie schließlich aus, was sie hier eigentlich wollte. Liebe Fee, kannst du geliebte Menschen wieder zurückholen? fragte sie leise und mit einem traurigem Blick. Sie würde alles dafür tun, Jaden wieder bei sich zu haben. Und diese Fee war wahrscheinlich ihre einzige und letzte Hoffnung. Würde es klappen?
Das Grinsen, welches Mike auf seinen Wunsch hin der Fee geschenkt hatte, wurde etwas verlegener, als Ivy sowohl seine Größe als auch Statur als super bezeichnete. Er war sich nicht sicher, wie er ihre Worte interpretieren sollte, zumal die Blauhaarige selbst mindestens eine Handbreite größer war als er. Da konnte sie es wohl kaum als Kompliment meinen, sondern eher als Scherz, den Mike nicht verstand. „War auch nur ‘n Spaß“, gab er lachend zurück und fuhr sich durchs Haar. Er glaube sowieso nicht daran, dass dieses leuchtende Wesen Wünsche erfüllen konnte, so banal sie auch sein mochten. Um trotzdem eine Erinnerung an dieses Ereignis zu haben, zückte Mike seine Kamera, doch bevor er auf den Auslöser drücken konnte, meldete Ivy sich mit einer Frage an die Fee zu Wort, die dem Werwolf den Hals zuschnürte. Vor zehn Sekunden war die Situation noch vergnügt und seine Laune ausgelassen gewesen, aber Ivys Worte und ihr Gesichtsausdruck dabei veranlassten Mike dazu die Kamera abrupt zu senken. „Bullshit! Als ob die wirklich Wünsche erfüllen kann! Und schon gar nicht sowas!“, sagte er in einem gröberen Tonfall, als geplant. Er wollte Ivy nicht auf den Schlips treten oder verunsichern. Aber irgendetwas in ihm sträubte sich gegen die Frage der Blauhaarigen. Sein scharfer Ton hatte die Fee offenbar verschreckt, denn sie sauste aufgeregt über ihren Köpfen hinweg und verschwand schließlich zwischen zwei Steinbrocken. Mike sah dem sterbenden Funkeln hinterher, bis es vollkommen verschwand. Erst nach einem Augenblick setzte ein Schuldbewusstsein ein und die Wut verpuffte, genau wie die Fee. Unsicher biss er sich auf die Unterlippe und schielte zu Ivy herüber. „Ich hab sie verjagt … sorry“, setzte er kleinlaut an. Nach einer kurzen, unangenehmen Pause sprach er weiter. „Soll ich sie suchen oder—?“ Er traute sich nicht Ivys Blick zu suchen und starrte stattdessen betreten zur Seite. Jetzt hatte er es mit ihr vermasselt.
Ivy erschrak über den scharfen Tonfall von Mike und zuckte vor Schreck ein wenig zusammen. Genauso wie sie, hatte sich die Fee erschrocken und war vor ihnen geflohen. Traurig blickte sie der Fee hinterher und schaute dann zu Boden. Sie wollte Mike nicht in die Augen sehen, und sie wusste im ersten Moment nicht, ob sie wütend auf ihn sein sollte, oder einfach nur traurig. So sehr sie sich Jaden auch zurückgewünscht hatte, so sehr würde der Wunsch wahrscheinlich auch niemals in Erfüllung gehen. Einen Moment lang sah sie nur traurig zu Boden und erst Mikes Worte rissen sie wieder aus ihrer Welt.
Du hast Recht! sagte sie und setzte ein gespieltes Lächeln auf. Sie wollte nicht wütend sein und sie wollte nicht traurig sein. Sie konnte nichts daran ändern, dass Jaden tot war und so langsam sollte sie sich damit wohl abfinden. Sie schaute nochmal zu der Stelle, wo sie die Fee zuletzt gesehen hatten. Ach was solls! War sowieso nur ein blöder Wunsch! sagte sie fröhlich, doch es hatte einen kleinen traurigen Unterton.
Sie lächelte Mike an und wuschelte ihm durch die Haare. Lass uns lieber die Natur außerhalb der Ruine genießen! schlug sie vor und wollte einfach nur noch weg von diesen unheilvollen Mauern.
Er konnte sein schlechtes Gewissen nicht abschütteln, vor allem, da man Ivy anmerken konnte, dass sie traurig gestimmt war. Es war kein Geheimnis, dass der Werwolf emotional so reif und sensibel, wie ein vorpubertärer Junge war, aber dass er nun so urplötzlich und scheinbar grundlos aus der Haut gefahren war, tat ihm tatsächlich leid. Der einzige Trost war die Tatsache, dass Ivy diesen Moment schon bald vergessen würde. Es war besser so, denn dann könnten sie noch einmal ganz von vorn anfangen, ohne solch unangenehme Erinnerungen. Dass ihr all das scheinbar gar nichts ausmachte, konnte Mike sich nicht vorstellen. Wahrscheinlich spielte sie ihm ihre Unbeschwertheit nur vor, um die Situation nicht noch unschöner zu machen. „Gar nicht“, nuschelte er dann, als sie ihren Wunsch als blöd bezeichnete. Mehr brachte er gerade nicht über die Lippen. Er ließ zu, wie sie durch sein Haar fuhr und stimmte schließlich, wenn auch etwas zögernd, zu. Frische Luft würde ihnen beiden sicherlich gut tun. Da er nicht wusste, was er sagen sollte, lief er zunächst schweigend neben Ivy her. Die Stille sorgte nicht unbedingt dafür, dass seine Nerven sich beruhigten, aber er wollte sie auch nicht mit erzwungenem Gequatsche füllen. Nach einer Weile, als der Ausgang der Ruine in greifbarer Nähe war, räusperte Mike sich und schaute zu Ivy. Ihr schöner Anblick ließ ihn beinahe den Mut verlieren, doch letztlich überwandte er sich. „Dein Wunsch war nicht blöd. Wenn’s echt eine Fee gäbe, die sowas wahr machen könnte, würd‘ ich mir das gleiche wünschen.“ Seine Stimme klang sanfter und ruhiger als sonst. Man hörte ihm an, dass er es ernst meinte und nicht nur sagte, um die Wogen zu glätten. Mike war noch nie gut darin gewesen, ernste Unterhaltungen zu führen. Er war ein Frechdachs und ein Clown, aber niemand, der seiner gefühlvollen Seite viel Beachtung schenkte. Entsprechend schwierig waren ihm die Worte gefallen.
